Vom Beter zum Kämpfer

Die Biographie des pfälzischen Sozialdemokraten Nikolaus Osterroth

von Jannik Krüger & Lisa Maucher

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Abb. 1: Titelbild Vom Beter zum Kämpfer
Abb. 1: Titelbild »Vom Beter zum Kämpfer«

Wenn Religion eine Rechtfertigung dafür sein sollte, dass Klassen bestanden, so war es für den Arbeiter Nikolaus Osterroth nur eine Frage der Zeit, bis er sich gegen sie aufbäumen musste.

In vielen Arbeiterbiographien vor 1914 zielte die Lebenserzählung immer wieder auf die Religion ab, die von den sich ausgebeutet fühlenden Menschen zunehmend als »Opium des Volkes« (Karl Marx) gesehen wurde. In Nikolaus Osterroths Autobiographie hatte die Kirche in der Alltagspraxis eine große Bedeutung und ebenso in der Schule, in der, wie Osterroth beschrieb, die Pfarrer eine missionarische Tendenz im Religionsunterricht aufwiesen.

Dieser Mann, der 1875 in Hettenleidelheim im Landkreis Bad Dürkheim geboren wurde, schrieb eine Autobiographie aus der Sicht eines Arbeiters, die für dieses Thema exemplarisch ist. Sie gibt Antworten auf die Fragen, wie mit der »sozialen Frage« im Alltag umgegangen und wie sie zu lösen versucht wurde.

Inhalt

Klassengesellschaft

Wenn Religion eine Rechtfertigung dafür sein sollte, dass Klassen bestanden, so war es für den Arbeiter Nikolaus Osterroth nur eine Frage der Zeit, bis er sich gegen sie aufbäumen musste. Zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs, in der Wilhelm II. seine Macht als gottgegeben rechtfertigte, galt der »einfache Bürger« als Untertan, der sein ebenfalls gottgegebenes Schicksal akzeptieren musste. Für die aufkommende Arbeiterbewegung und ihre Akteure wurde dieses Weltbild zunehmend zu einer programmatischen Kontrastfolie. In vielen Arbeiterbiographien vor 1914 zielte die Lebenserzählung daher immer wieder auf die Religion ab, die vom Industrieproletariat im Spiegel der »sozialen Frage« zunehmend als »Opium des Volkes« (Karl Marx) gesehen wurde.

Auch in Nikolaus Osterroths Autobiographie spielte die Kirche eine große Rolle. Geboren 1875 in Hettenleidelheim im Landkreis Bad Dürkheim, wuchs Osterroth in einem streng katholischen Elternhaus auf, in dem es nur die eine, von Gott gewollte Ordnung gab, nach der sich scheinbar die ganze Welt, auch das Leben, Arbeiten und Sterben in den Tongruben der Pfalz, richtete. Irgendwann jedoch blitzte im Kopf Nikolaus Osterroths der Gedanke auf, dass diese einseitige Machtverteilung, von der der Klerus mitunter profitierte, falsch sei und nicht gottgegeben sein könnte. Als Osterroth seine Biographie verfasste, war er vom »Beter zum Kämpfer« – so der Titel der Erinnerungen – geworden und saß für die Sozialdemokraten in der Weimarer Nationalversammlung.

(Ego-)Dokumente wie diese Autobiographie geben einen Hinweis darauf, wie kollektiv vermittelte Haltungen und Erfahrungen aus der Eigenperspektive eines Menschen bewertet wurden. Für den historischen Gesamtkontext bilden sie eine Quelle, die die Lebenswirklichkeit eines Individuums miteinbezieht und auf geschichtliche Ereignisse ein neues Licht werfen kann (Seifert 2009, 12). Nikolaus Osterroths Autobiographie aus der Sicht eines Arbeiters, der zum Politiker wurde, gibt Antworten auf die Fragen, wie mit der »sozialen Frage« und religiösen Angelegenheiten im Alltag umgegangen wurde.

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Die Religionskontroverse

Mit der Arbeiterbewegung setzte eine zunehmende Kirchenkritik ein. Der Kirche wurde vorgeworfen, sich nicht genug um die Belange der Armen zu kümmern, sondern vielmehr zu deren Ausbeutung beizutragen. Außerdem sah man bei vielen Vertretern der Kirche eine Doppelmoral, welche sich in einem ausschweifenden Lebensstil manifestierte. Die Sozialdemokraten hatten den Wunsch nach einem weitgehend säkularisierten Deutschland: einer Trennung von Kirche und Staat und von Kirche und Bildung.

Es liegt auf der Hand, dass diese Bestrebungen den Vorstellungen der Kirche und der Obrigkeit widersprachen. So verdeutlichte Kaiser Wilhelm II. 1889, wie elementar die Verknüpfung von Kirche und Schule für sein Weltbild war: »Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule […] nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken« (Erlaß Wilhelms II. zur Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen durch die Schule und Ausführungsbestimmungen [1889], 408).

Ferner beschrieb er, dass die Aufgaben der Schule in erster Linie in der »Pflege der Gottesfurcht« und der »Liebe zum Vaterlande« bestünden. Die Sozialdemokratie widerspräche hingegen den »göttlichen Geboten« und der »christlichen Sittenlehre«. So kam es zu klaren Lagerbildungen bezüglich der Religionsdebatte, jedoch waren sich die Sozialdemokraten selbst oft nicht einig, wie weit sie mit ihren Forderungen gehen sollten.

Die sozialistische Weltanschauung – Vom Glauben zum Wissen

Die »sozialistische Weltanschauung« lässt sich als Ideologie, Deutungskultur und auch als lebenspraktisch wirksame Mentalität beschreiben. Kritiker konnotierten den Sozialismus häufig als eine Art »Ersatzreligion«, »säkulare, politische Religion«, »Sozialreligion« oder »Pseudoreligion«. Diese Merkmale bezogen sich zumeist auf »realsozialistische«, kommunistische Staatsideologien und Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts mit ihren »Dogmen« und »Kulturen«, jedoch auch insgesamt auf historische Phänomene von Sozialismus und sozialistischer Bewegungen (Prüfer 2002, 331).

Die dem Sozialismus innewohnenden Ideen der Hoffnung auf ein besseres Dasein, der Sicherheit in schwierigen Zeiten und der Erlösung von allem Übel dieser Welt legten einen solchen Vergleich nahe, so der prominente zeitgenössische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Werner Sombart (vgl. Prüfer 2002, 331).

Der sozialdemokratische Religionsdiskurs verstand jedoch, solange er nicht in unreflektierte Agitation verfiel, zu vermitteln, dass sowohl der Sozialismus als auch die christliche Religion zum »Trost und Heil« der Menschen beitragen wollten. Der Sozialismus könne jedoch durch seine Diesseitsbezogenheit erfolgreicher sein und daher die »Erlösungsfunktion« des Christentums übernehmen. Der Sozialismus schaffe mit Wissen anstelle von Glauben und mit Wissenschaft statt Theologie Gewissheit über die zentralen Fragen menschlicher Existenz. Dies führe zwar nicht in das himmlische, wohl aber in das irdische Paradies – den »Himmel auf Erden«. Angetrieben von dieser Idee sollten Sozialdemokraten Beschlüsse fassen und aktiv für den Sozialismus eintreten, anstatt zu beten (Prüfer 2002, 333).

Die Religionsdebatte in sozialdemokratischen Vollversammlungen

Ein weiteres Indiz dafür, dass die religiöse Frage für die sozialistische Arbeiterbewegung eine zunehmend bedeutendere Rolle spielte, zeigt sich in der Themenstellung sozialdemokratischer Volksversammlungen. Insbesondere seit den 1870er Jahren wurden immer wieder kirchliche und religiöse Themen auf den Versammlungen debattiert (Prüfer 2002, 35). Im Zentrum dieser Debatten standen unter anderem der religiöse Eid und die Glaubensfreiheit, die Kirche und die soziale Frage, die Kirchensteuer, Theologie und Wissenschaft, der Religionsparagraph des Parteiprogramms, der Gotteslästerparagraph1) im Strafgesetzbuch oder Religion als Privatsache (Prüfer 2002, 36).

Das Protokoll zum Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vom 7. bis zum 11. September 1872 in Mainz verdeutlicht die Brisanz jener Debatten. So heißt es:

»Unser Programm spricht es deutlich aus: ›Kein Kampf für die Klassenherrschaft!‹ Heut zu Tage herrschen noch Junker, Pfaffen und Bourgeois. Diese Herrschaft muß fallen, wir aber wollen an die Stelle der alten keine neue Privilegien setzen; wir wollen die Volksherrschaft durch das gesamte Volk!« (Protokolle 1872, 9)

An anderen Stellen geht es um den Einfluss der Kirche auf Schule und Wissenschaft, die Kritik ist direkt an die politischen Gegner gerichtet:

»Wer hatte das Bildungswesen in Händen? Wer hat es verabsäumt? Ihr, unsere Feinde, ihr habt das Volk absichtlich in der Unbildung erhalten. Ihr sagt: das Pfaffenthum allein sei Schuld. Doch das zieht nicht mehr. Euer neuestes Verdummungssystem, indem Ihr den Fortschritt auf religiösem Gebiete prediget, täuscht uns ebensowenig.« (Protokolle 1872, 10)

Nun war der Stein ins Rollen gebracht. Ab jetzt erfolgte ein unerbittlicher Kampf zwischen Sozialdemokratie und Klerus, welcher noch lange das Verhältnis beider zueinander prägen sollte.

Osterroth und die Religion

Wie sehr sich dieser Kampf auch auf diejenigen auswirkte, die als einfache Arbeiter in einem Weltbild mit Glaubensfundament aufgewachsen waren und nun vor dem Hintergrund einer neuen Gesellschaftslehre die Systemfrage stellen wollten, zeigt die Biographie Nikolaus Osterroths.

Als Sohn eines verarmten Metzgermeisters wuchs Osterroth in einem kleinen Dorf in der Pfalz auf. Seine katholische Stiefmutter, »bis zur Unbeugsamkeit herrschsüchtig, mehr bigott als fromm, stets zum Zanken neigend« (Osterroth 1980, 5), sorgte für einen streng religiösen Haushalt. Durch die Armut der Familie wurde der erst 13-Jährige dazu gezwungen, unter menschenunwürdigen Umständen in Ziegeleien und Tongruben zu arbeiten. Zu dieser Zeit war Kinderarbeit ein weit verbreitet in Industriebetrieben. Die Grubenbesitzer standen in der gottgegebenen Hierarchie über den »einfachen Arbeitern« und waren im Rahmen des wilhelminischen Obrigkeitsstaats dazu legitimiert, die Rolle des Ausbeuters einzunehmen.

Durch eine Rauferei zwischen den vor Ort konkurrierenden Grubenbesitzern wurde die sozialdemokratische Mannheimer Zeitung »Volksstimme« auf die Arbeitsbedingungen aufmerksam und berichtete über diese. Als die Publikation im Dorf verteilt wurde, gründete der Klerus postwendend einen Kolpingverein, der die Aktionen der Sozialdemokraten unterbinden sollte. Die Geistlichen fürchteten um ihre Autorität. Osterroth, der als Gläubiger sofort Mitglied wurde, fühlte sich in seiner religiösen Einstellung bestärkt und wurde mit vollem Herzen Anhänger der katholischen Zentrumspartei.

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Der Kampf gegen das Unrecht

Ich »war die widerliche Heuchelei gründlich satt, die ich selbst mitgemacht und auch bei anderen beobachtet hatte« (Osterroth 1980, 101). Nikolaus Osterroth, der nach seiner dreijährigen Mitgliedschaft beim katholischen Jünglingsverein wegen einer Rauferei fortgejagt wurde, entwickelte nun mehr und mehr Kritik an seiner Kirche. Bei diesem Streit sah er die Ungerechtigkeit darin, dass sein Kontrahent die Ursache des Konflikts falsch darstellte und der Pfarrer Osterroth weder glaubte noch in Schutz nahm. Dieses für Osterroth prägende Erlebnis, neben der später für ihn inspirierenden Lektüre von Ludwig Feuerbachs »Das Wesen der Religion«, zeigte ihm die Verlogenheit der Gläubigen. Aus dieser Wut heraus kam er nie wieder in den Jünglingsverein zurück.

Der Pfaffe als Feindbild

Nicht alle Sozialdemokraten waren in erster Linie gegen den Glauben per se, sondern vielmehr gegen die durch die Kirche legitimierte Aufteilung der Menschen in Hierarchien. So war die Kirche Teil der Herrscherklasse, wobei vor allem die Pfarrer selbst als Anhänger der »antiemanzipative[n] kirchlich-institutionalisierte[n] ›Pfaffenherrschaft‹« im Kreuzfeuer der Kritik standen (Prüfer 2002, 101). Dies unterstreicht auch ein Zitat, das beim Mainzer Parteitag der sozialdemokratischen Arbeiterpartei fiel:

»Im Vorbeigehen darf ich auch den deutsch-katholischen Pfarrer in Mainz, den Herrn Hieronimy, nicht vergessen. Dieser geistige Cretin unterfängt sich, in dem deutsch-katholischen Sonntagsblatt über die Social-Demokratie, speciell über Freund Bebel und Liebknecht, herzufallen. Ein freireligiöser Redner aus Nürnberg fragte ihn bei der kürzlich in Oberringelheim abgehaltenen Synode, warum er das thue und er antwortete: So lange ich leben werde, will ich diese Social-Demokraten bekämpfen!« (Protokolle 1872, 12-13)

Auch Lyriker wie Nikolaus Lenau publizierten vielfach antiklerikale Gedichte, die die Machtstellung der Geistlichen untergraben sollten:

»Der Pfaffe weiß mit Dampf, Gesang und Glocken
Mit Mummerei, Gebed und schlauem Segen
Den Pöbel zum Guckkasten hinzulocken,
Worin sich Höll' und Himmel bunt bewegen.
Derweil entzückt der Pöbel und erschrocken
An's Wunderloch nun thut das Auge legen,
Umschleichet ihn der Pfaffe, aus den Taschen
Die schweißgetränkten Kreuzer ihm zu haschen«
(Vorwärts! 1886, 336).

Die Missstände rückten auf diese Art und Weise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, die darüber zu diskutieren begann. Nun musste sich die Kirche Strategien überlegen, um nicht ihr Ansehen zu verlieren. Osterroth beschreibt in seiner Autobiographie, dass die Geistlichen in seinem Dorf zu dieser Zeit verstärkt Versammlungen abgehalten haben, um die Gläubigen nicht an die »ketzerischen« Ideen der Sozialdemokraten zu verlieren. Auch in den Predigten der Messen stand verstärkt die Diffamierung der Sozialdemokratie im Fokus.

Osterroth selbst war besonders beeindruckt vom Herausgeber und Redakteur der konservativ-katholischen Zeitung „Bayerisches Vaterland". Als er aber später auf einem Bild sah, wie sein Vorbild, der Journalist Dr. Johann Baptist Sigl, einem Sozialdemokraten nach dessen Rede beglückwünschte, war er verwundert, denn noch immer betrachtete er die sozialdemokratischen »Anhänger als eine Art Mittelding zwischen Mensch und Teufel« (Osterroth 1980, S.115). Noch immer konnte er sich von der Kirche, die vor einem Machtverlust zitterte, nicht vollends abnabeln.

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Vom Beter zum Kämpfer

Doch Osterroth begann die Handlungsweise der Kirche zunehmend zu hinterfragen. Durch ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber den vorherrschenden Ungerechtigkeiten ersuchte er Hilfe bei Geistlichen. Diese schlugen sich aber immerzu auf die Seite der Arbeitgeber. Die Arbeit in der Tongrube, der Osterroth seit seinem 13. Lebensjahr nachging, hatte in »fünf Monaten […] aus einem frohen, helläugigen Kind einen sich nach Tod und Grabesruhe sehnenden Greis gemacht« (Osterroth 1980, 44). Er suchte Hilfe bei einem Kaplan, der ihn noch aus Messdienerzeiten kannte. Dieser tröstete ihn mit dem Satz, dass man das Joch, das Gott einem auferlegt hätte, mit christlicher Geduld tragen müsse und der Fluch der Arbeit dadurch zum Segen würde.

Obwohl das Gesagte dem jungen Osterroth für einen Moment half, ärgerte es ihn, dass der Kaplan nicht für die Situation der Arbeiter Partei ergriff. Als die Grubenherren die Produktionskosten auf Kosten der Arbeiter herabsetzten, wandte sich Osterroth an einen Pfarrer, der seine Unterstützung aber verweigerte: »Statt den Grubenherren zu sagen: ›Ihr sollt eure Nächsten lieben wie euch selbst‘, sagte er den ausgebeuteten Arbeitern: ›Ihr seid Knechte, und Knechte müßt ihr bleiben; so will es Gott zu eurem Seelenheil‹« (Osterroth 1980, 119).

Osterroth nahm die christliche Morallehre und das Handeln der Geistlichen zunehmend als einen Widerspruch wahr. »Wie notwendig wäre es gewesen, den scheinheiligen, Religiosität heuchelnden Grubenbesitzern den Weg der Arbeit und der Pflicht zu zeigen« (Osterroth 1980, 64). Er musste also selbst aktiv werden, wenn er etwas verändern wollte. Das geschah, nachdem er ein sozialdemokratisches Flugblatt entdeckte, das den Lebensbedingungen der einfachen Arbeiter und seinen eigenen Erfahrungen am unteren Ende der Gesellschaft mit den richtigen Fragen und Antworten zu begegnen schien.

Das Flugblatt, das alles veränderte

Am letzten Aprilsonntag des Jahres 1898 wurde ein Flugblatt durch das offen stehende Fenster der Familie Osterroth geworfen. Darin klagte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Regierung und die bürgerlichen Parteien an, dass sie Schuld an der Ausplünderung der Volksmassen durch indirekte Steuern und Zölle trügen. Außerdem wären sie für das Elend und die Rechtlosigkeit der vielen Arbeiter verantwortlich, denen mit einem Aufenthalt im Gefängnis gedroht wurde, sollten sie eine Gewerkschaft gründen. Osterroth wunderte sich, warum die Zentrumspartei diese Punkte nicht angesprochen hatte. Die Lösungsvorschläge der Sozialdemokraten lösten Begeisterung bei ihm aus: »Plötzlich sah ich die Welt von der andern Seite, von einer Seite, die mir bis jetzt dunkel und unbeleuchtet geblieben war. […] Das Flugblatt wirkte auf mich wie eine Offenbarung« (Osterroth 1980, 121f.).

In euphorischer Stimmung machte er sich auf die Suche nach den Flugblattverteilern und fand heraus, dass es sich um eine Gruppe Radfahrer aus Ludwigshafen handelte. Er schloss sich ihnen an und erfuhr dabei vom »Erfurter Programm« der Sozialdemokratie, welches die Religion zur Privatsache machen sowie den Achtstundentag, das Wahlrecht und den Arbeitsschutz durchsetzen, kurzum: die Arbeitsbedingungen verbessern wollte. »Ich verbrachte fast die ganze Nacht studierend über dem Programm und hatte das Gefühl, als ob sich alle diese Gedanken mit Flammenschrift in mein Gehirn eingrüben« (Osterroth 1980, 123).

Schon am folgenden 1. Mai 1898 wurde Osterroth, inspiriert durch das Flugblatt, vom Beter zum Kämpfer für die Sozialdemokratie. Er hielt vor seinen Kollegen in der Tongrube eine gefeierte Rede, in der er die Arbeiter zur Einigkeit angesichts der zunehmend schlechteren Lebens- und Arbeitsbedingungen aufrief. Aus dem Stand gründeten die versammelten Arbeiter eine Gewerkschaft mit 140 Mitgliedern. Ferner »beschloß man, sich jeden Samstagabend zu versammeln, um die Berufsinteressen zu besprechen« (Osterroth 1980, 126).

Die Sozialdemokratie und der Glaube

Osterroth begann nun, sich mit weiteren Schriften aus sozialdemokratischen Zirkeln zu beschäftigen, die sein bisheriges Weltbild, geprägt vom christlichen Ordo-Gedanken, nachhaltig erschütterten. Ebenso wie Feuerbachs »Das Wesen der Religion« beeindruckte ihn das Werk »Moses oder Darwin« von Arnold Dodel-Port : »Das Fundament meines Glaubens war nach der Lektüre des prächtigen Buches zertrümmert« (Osterroth 1980, 136).

Da er ja schon vorher mit einigen Enttäuschungen seitens der Kirche umgehen musste, vervollkommnete dieses Buch seine Überzeugung, sich von der Ideologie der Kirche abzuwenden. Während der Klerus noch immer eifrig dabei war, im »im Beichtstuhl, am Krankenbett und sogar in der Schule […] den roten Drachen zu bekämpfen« (Osterroth 1980, 128), war sich Osterroth unsicher, wie er seine Religiosität mit der Sozialdemokratie vereinbaren sollte.

Der gehässige Kampf der Geistlichen gegen die Arbeiterbewegung führte dazu, dass Osterroth sich schließlich ohne schlechtes Gewissen von der Kirche abwendete. Damit entfernte er sich jedoch nicht vom Glauben an sich: »Meinen Gott verlor ich nicht; er bekam nur andere Gesichtszüge und andere Eigenschaften« (Osterroth 1980, 136). Die Sozialdemokraten waren auch damals schon nicht der Ansicht, dass der Glaube selbst vernachlässigt, sondern vielmehr kritisch reflektiert werden müsste und nicht als Machtinstrument missbraucht werden dürfte.

Eine sozialdemokratische Biographie

Osterroths sozialdemokratischer Werdegang nahm seinen Lauf. Nach 1898 war er Gewerkschaftssekretär in der Pfalz, in Westfalen und in Schlesien. Parallel dazu war Osterroth sozialdemokratischer Agitator und Zeitungsredakteur. 1919 wurde er zum Mitglied der Nationalversammlung ernannt. Von diesem Jahr an bis 1923 war er als Bergbaureferent im Reichswirtschaftsministerium aktiv. Im preußischen Landtag war Osterroth von 1920 bis 1933 sozialdemokratischer Abgeordneter und schließlich zwischen 1924 und 1933 Vorstandsmitglied der Preußischen Bergwerks- und Hütten AG.

Dies war ein bemerkenswerter Lebenslauf, der sich 1875, im Geburtsjahr Osterroths, wohl kaum abgezeichnet hatte: von einem streng kleinbürgerlich-katholisch sozialisierten Jungen und Jugendlichen zu einem an Religion und vor allem Kirche zweifelnden Mann, den die Erfahrungen von Elend und Ausbeutung im pfälzischen Tonbergbau prägen und zum überzeugten Sozialdemokratie werden lassen – und der schließlich nicht mehr betet, sondern kämpft.

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Literatur

Prüfer, Sebastian (2002). Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890. Göttingen.

Seifert, Manfred (2009). Ego-Dokumente im Spannungsfeld von Forschungsperspektiven und Sammlungspraxis. In: Ders. und Friedreich, Sönke (Hg.). Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung (11-36). Dresden.

Quellen

Erlaß Wilhelms II. zur Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen durch die Schule und Ausführungsbestimmungen (1889). In: Michael, Berthold und Schepp, Heinz-Hermann (1973). Politik und Schule von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Eine Quellensammlung zum Verhältnis von Gesellschaft, Schule und Staat im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1 (408-414). Frankfurt a. M.

Osterroth, Nikolaus (1980) [1920]. Vom Beter zum Kämpfer. Berlin u. a.

Protokolle der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1971). Bd. 1. Bonn u. a.

Vorwärts! Eine Sammlung von Gedichten für das arbeitende Volk (1886). Zürich.

Bildnachweis

Abb. 1: Titelbild „Vom Beter zum Kämpfer“

Zitiernachweis

Krüger, Jannik & Maucher, Lisa (2013). »Vom Beter zum Kämpfer«. Die Biographie des pfälzischen Sozialdemokraten Nikolaus Osterroth. In: Roth, Jonathan (Hg.). Sozialdemokratie in Rheinland-Pfalz – Dokumente aus drei Jahrhunderten. www.sozialdemokratie-rlp.de/dokumente/vom-beter-zum-kaempfer.html (Datum des Zugriffs).

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Endnoten

  1. §135 des preußischen Strafgesetzbuches von 1851 (PStGB) stellte die Verspottung der anerkannten christlichen Kirchen unter Strafe. Zudem stand Gotteslästerung als solche unter Strafe. Andere Religionsgemeinschaften genossen diesen Schutz nicht. »