Leiser Protest

Sozialdemokratische Widerstandsbewegungen während der NS-Zeit im Rhein-Main-Gebiet

von Lea Sophie Preusser

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Abb. 1: Protokollsammlung aus dem Geheimen Staatspolizeiamt Darmstadt
Abb. 1: Protokollsammlung aus dem Geheimen Staatspolizeiamt Darmstadt

Unter Gefährdung des eigenen Lebens haben Menschen Widerstand gegen das NS-Regime geleistet, darunter viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Sie riefen zu Demonstrationen auf oder übten leisen Protest durch die Verteilung geheimer Flugschriften. Auch im Rhein-Main-Gebiet waren Widerstandsgruppen aktiv, nicht alle waren erfolgreich. Eine 500-seitige Protokollsammlung aus dem ehemaligen Geheimen Staatspolizeiamt Darmstadt berichtet über Verhaftungen und Verurteilungen. Dieses Dokument bietet Einblicke in das Engagement und die Organisation verschiedener Widerstandsbewegungen zwischen 1933 und 1934.

Inhalt

1934 in Darmstadt

Abb. 2: Bericht über Georg Heinrich Dirk aus Mainz
Abb. 2: Bericht über Georg Heinrich Dirk aus Mainz

»Bis Mitte 1935 wurde Heid von Wagner laufend mit der »Soz[ialistischen] Aktion beliefert […] Heid gab einen Teil der ihm überlassenen Exemplare […] an Lotz […] weiter mit dem Auftrag; für ihre Verteilung zu sorgen.«1) So unscheinbar wie diese Namen klingen, waren wohl auch die dahinterstehenden Biographien. Nicht aber ihre Wirkung. Denn sie und viele andere sind es, die zu unserer heutigen Demokratie beigetragen haben. Sie haben ihre Freiheit riskiert, um die Freiheit anderer zu schützen.

Im ehemaligen Volksstaat Hessen befand sich während der NS-Zeit das Geheime Staatspolizeiamt Darmstadt (vgl. Arenz-Morch, Mümpfer & Schiffmann 2008, 240). Hier wurden zwischen 1934 und 1936 zahlreiche sozialdemokratisch gesinnte Gegner des NS-Regimes verurteilt. Darunter auch Heid, Lotz und Wagner, drei Arbeiter aus Offenbach. Ein etwa 500 Seiten starker Ordner voller Polizeidokumente aus Darmstadt über eben jene Zeit liegt im Stadtarchiv Wiesbaden (Abb. 1 u. 2).2) Diese Dokumentation bietet Einblicke in das Engagement und die Organisation verschiedener Widerstandsbewegungen zwischen 1933 und 1934 im Rhein-Main-Gebiet.

Die Polizeidokumente wurden für diesen Beitrag in eine Reihe von Übersichtskarten übersetzt. Anhand dieser Karten sowie Auszügen aus den dokumentierten Verfolgungen und Verurteilungen soll veranschaulicht werden, welche verschiedenen Widerstandsgruppen in der Region tätig waren.

Unter Gefährdung des eigenen Lebens, oft auch des der ganzen Familie, haben Menschen Widerstand gegen das NS-Regime geleistet. Darunter waren auch einfache Arbeiter wie Lotz, Wagner und Heid oder der Obst- und Gemüsehändler Georg Heinrich Dirk aus Mainz. Sie und viele weitere Widerständler aus dem Rhein-Main-Gebiet wurden zwischen 1934 und 1936 wegen »Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens« zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Polizeidokument belegt, wie die Gestapo eine Gruppe mutiger Menschen und deren hohes Ziel, Freiheit durch Demokratie, zerschlug. Woher kamen die Menschen, die sich im Südwesten des Deutschen Reichs nicht einfach unterworfen haben und wie haben sie zusammengearbeitet? Was waren ihre Ziele?

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Widerstand: Quellen, Forschung und Geschichte

Abb. 3: Verteilungsplan der Druckschriften
Abb. 3: Verteilungsplan der Druckschriften

Das Zentrum des sozialdemokratischen Widerstandes lag in Berlin. In größerer Zahl gab es zudem lokale und regionale Widerstandsstrukturen im Ruhrgebiet, in Mannheim, Ludwigshafen, Köln, Stuttgart, Nürnberg und im Rhein-Main-Gebiet (Abb. 3; vgl. Grasmann 1976, 105).

Politisch gehörte das Rhein-Main-Gebiet während der NS-Zeit zur Provinz Hessen-Nassau sowie zum Volksstaat Hessen (Karte 1; vgl. Ulrich 2004, 107–108). Dieses Gebiet gilt als die »lokalhistorisch am besten erforschte Region Deutschlands« (Ulrich 2001, 106). Allein das 500 Seiten lange Polizeidokument gibt reichlich Aufschluss darüber, was 1933 und 1934 zwischen Mainz, Frankfurt und Darmstadt geschah.

Die Bereitschaft, sich gegen das NS-Regime zu stellen, war immer eine individuelle Entscheidung. »Gleichwohl bleibt die Region in einem eher oberflächlicheren Sinne doch eine wichtige Kategorie für die Widerstandsforschung – freilich ganz pragmatisch verstanden als Folie« (Schmiechen-Ackermann 2006, 191). Sie kann demnach dazu dienen, exemplarisch die Grundstrukturen von Widerstandsgruppen und die Motivation von Widerstandskämpfern zu beschreiben.

Karte 1: Die Reichsgaue im Westen um 1933
Karte 1: Die Reichsgaue im Westen um 1933

Quellen

Der genaue Umfang des sozialdemokratischen Widerstandes lässt sich kaum ermessen. Auf Grund der strikten Geheimhaltung der Aktionen sind nur wenige Unterlagen erhalten. Als Hauptquelle dienen oft Gerichts- und Polizeiprotokolle. Bei diesen Dokumenten ist es schwierig, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sie wurden »vielfach im Sinne der Anklage verfälscht« (Grasmann 1976, 99). Hinzu kommt, dass einiges an Aktenmaterial entweder von den Alliierten beschlagnahmt (vgl. Grasmann 1976, 99) oder von NS-Behörden selbst vernichtet wurde (vgl. Bembenek & Ulrich 1990, 12).

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht das Polizeiprotokoll aus dem Privatarchiv des Widerstandsforschers Dr. Axel Ulrich in Wiesbaden. Auch hier fehlen immer wieder einige Seiten. Alle Texte wurden von Polizisten oder Juristen in Diensten des NS-Regimes verfasst, das Dokument enthält keine wörtlichen Zeugenaussagen. Auch indirekte Rede ist oft durch einen ungläubigen Unterton des Schriftführers gefärbt – wie beispielsweise bei der Verhandlung von Theodor Sturm, einem Kaufmann aus Mainz, der für seine Widerstandsarbeit nach Offenbach gezogen und »bis zur Nationalen Erhebung […] Verhandlungsredner der Sozial-demokratischen Partei Deutschland (SPD) für den Büdinger Bezirk« gewesen sein soll:

»Sturm will zwar nur in einem einzigen Falle die 'Soz. Aktion' bezogen und gelesen haben, gibt aber zu, einmal eine Lieferung dieser Schrift, etwa 30 Stück, zu Bruder [einem Handlungsgehilfen aus Vilbel – Anm. d. Verf.] nach Oberhessen besorgt und ihn beauftragt zu haben, einen Teil des Materials an den Angeklagten Pfannkoch [Weißbindermeister aus Hidda – Anm. d. Verf.] weiterzuleiten.«2)

Diese Form der Widerstandsarbeit reichte aus, um Sturm zu vier Jahren Zuchthaus zu verurteilen und ihm seine »bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von […] fünf Jahren« abzuerkennen. Ein Schicksal, mit dem er nicht alleine blieb. Auch Wagner, Heid und Lotz wurden verurteilt und die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Dirk kam mit neun Monaten Gefängnis etwas glimpflicher davon.

Inwiefern es zu Kooperationen der einzelnen Gruppen kam, lässt sich aus der Dokumentensammlung nicht bzw. kaum nachvollziehen. Die Gerichtsverhandlungen in Darmstadt beschäftigen sich immer wieder mit kleineren Personengruppen von jeweils etwa zehn bis 20 Mitgliedern. Dass diese in Kontakt zueinander standen, ist bekannt. So versorgte beispielsweise »[d]er Angeklagte Wagner, […] der den Kreis mit Druckschriften, insbesondere der 'Sozialistischen Aktion' belieferte, die er aus Frankfurt a/M bezog, […] auch Sturm mit Material«.3) Ob allerdings Angeklagte, die in verschiedenen Protokollabschnitten aufgeführt werden, zusammenarbeiteten, wird nicht näher erwähnt. 

Vom Verbot zum Widerstand

Während ein großer Teil der deutschen Bevölkerung den neuen NS-Parolen folgte, »zeigte sich die vormals politisch und gewerkschaftlich geschulte und organisierte (wenn auch zersplitterte) klassenbewusste Arbeiterschaft dem gegenüber eher reserviert« (Sandvoß 2007). Als einzige Partei verweigerte die SPD 1933 mit der berühmten Rede des Parteivorsitzenden Otto Wels (1873–1939) ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz (vgl. Grasmann 1976, 14).

Nichtsdestoweniger versuchte die SPD durch Kompromisse an die NSDAP ihre Existenz zu erhalten – ohne Erfolg. Nach Beschlagnahmung der Parteikasse und des gesamten Parteieigentums wurde die SPD am 22. Juni 1933 verboten (vgl. Grasmann 1976, 17). Ab Sommer 1933 musste also Widerstand geleistet werden – und zwar politischer Widerstand in Form einer »kompromisslose[n] Ablehnung des NS-Regimes in Wort, Schrift oder Tat« (Ulrich 2005, 20).

Das Parteiverbot kam zumindest nicht für alle SPD-Mitglieder überraschend. Aus dem Darmstädter Polizeiprotokoll geht hervor, dass die Widerständler Unkelbach und Stoffers »noch vor Verbot der SPD an einer Funktionärsveranstaltung in Frankfurt a/M teil[nahmen], auf der Grundsätze für die illegale Fortführung der SPD aufgestellt wurden, deren Auflösung mit Sicherheit zu erwarten war«.4)

Während Hitler seinen Willen mit SA-Schläger-Trupps durchsetzte, nutzte die SPD keine offensiven Mittel zur Verteidigung. Stattdessen agierte der Parteivorstand auch nach der Machtergreifung noch streng im legalen Rahmen der Verfassung und der Rechtsordnung, obwohl bereits 1931 die »Eiserne Front« gegründet worden war und damit Möglichkeiten für eine offensivere Gegenwehr bestanden (vgl. Grasmann 1976, 13). Auch in den Verurteilungsprotokollen werden keine Gewaltakte genannt.

Dennoch wird unter den Verhaftungsgründen aufgeführt, dass den ehemaligen SPD-Funktionären klar geworden wäre, dass ihr Ziel, »die alte politische Macht wiederzuerringen […] auf gesetzmäßigem Wege unerreichbar« geworden war und man nun dazu überginge »den gewaltsamen Sturz der nationalsozialistischen Regierung zu verwirklichen«.5) Das Dokument allerdings erwähnt an mehreren Stellen, dass sich die Angeklagten trafen, um über die »ideologischen Grundlagen der neuaufzubauenden Organisation« zu sprechen.

Ziel des sozialdemokratischen Widerstandes

Diese Richtlinien sind auch im Prager Manifest der sozialdemokratischen Exilorganisation SoPaDe vom 28. Januar 1934 wiederzufinden. In ihm setzt die Auslandszentrale folgende Ziele für ihre Widerstandsarbeit fest:

»die Sammlung einer revolutionären Elite, deren Ausweitung zur Massenorganisation, die Eroberung der Staatsmacht, die sozialistische Organisation der Wirtschaft, die Revolution der Gesellschaft, die Sicherung des Weltfriedens und die Vereinigung aller antifaschistischen Kräfte zum Kampf gegen die Diktatur« (Grasmann 1976, 20).

Diese Ziele sollten nicht im Straßenkampf, sondern durch politische Gegenmaßnahmen erreicht werden (vgl. Grasmann 1976, 21). Sozialdemokratischer Widerstand war demnach gewaltfrei. Erst 1938 kam Wilhelm Leuschner (1890–1944), Sozialdemokrat und Gewerkschafter, zu dem Schluss, dass der Sturz Hitlers nur noch mit Hilfe des Militärs möglich sei (vgl. Grasmann 1976, 78).

Karte 2: Übersicht der Auslandswege
Karte 2: Übersicht der Auslandswege

Widerstand im Exil

Neben lokalen Strukturen in ganz Deutschland wurde die Widerstandsarbeit auch im europäischen Ausland betrieben (Karte 2), nicht selten auch mit Kontakt zu inländischen Widerstandsgruppen. Ziel war es, eine neue demokratische Führung aufzubauen und Aufklärungsarbeit über die Geschehnisse im Deutschen Reich zu leisten. In Prag wurde ab dem 21. Mai 1933 die Auslandszentrale aufgebaut. Hier wurde die Parteizeitung »Neuer Vorwärts« gedruckt. Auch andere Druckschriften kamen aus dem Ausland und wurden über Grenzsekretariate der SoPaDe im Deutschen Reich verteilt (vgl. Grasmann 1976, 16–17). Unkelbach bezog beispielsweise die auf Filmstreifen aufgenommene illegale Schrift »Der Funke« von dem in die Schweiz geflüchteten Gewerkschaftssekretär Döring.

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Widerstand im Rhein-Main-Gebiet

Die Parteimitglieder der SPD reagierten schnell und bildeten Widerstandsgruppen auf den Gebieten der heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Hessen. Ihr Widerstand sollte allerdings nicht von langer Dauer sein. Aus dem Darmstädter Protokoll lässt sich nachvollziehen, dass viele Aktivisten bereits 1933 und 1934 verhaftet und verurteilt wurden.

Aufgaben und Tätigkeiten der Widerständler

Abb. 4: »Sozialistische Aktion«, Februar 1936
Abb. 4: »Sozialistische Aktion« (1936)

Bei antifaschistischem Widerstand kann nicht die Rede von einer statischen Kategorie sein. Widerstand gestaltete sich vielmehr als Prozess, der viele verschiedene Formen annehmen konnte.

»Seine Bandbreite reichte von der einfachen Verweigerungshaltung gegenüber befohlenen Maßnahmen des Regimes […] über die Bildung lockerer oppositioneller Zusammenschlüsse, dann vom Mitwirken in […] Widerstandsstrukturen […] bis hin schließlich zur Beteiligung an Umsturzvorbereitungen« (Ulrich 2005, 22).

Das Oberlandesgericht Darmstadt sah darin eine »gewaltsame Änderung der Deutschen Reichsverfassung« und damit eine Strafsache.5) Allein die »Zusammenarbeit der verbotenen SPD« war Grund genug, dieser Form der »revolutionären Lösung«, dem Widerstand »von innen heraus« einen Riegel vorzuschieben.

Im Inland wurden die Informationen durch »Flüsterpropaganda und die Weitergabe der eingeschleusten Broschüren« (Grasmann 1976, 19) übermittelt. Im Bezirk Hessen-Nassau wurde die »Sozialistische Aktion« (Abb. 5) bezogen. Um die konspirative Arbeit zu finanzieren, wurde diese Zeitschrift für zehn Pfennig pro Stück in der Umgebung verkauft (Ulrich 2005, 43). Von Frankfurt und Offenbach wurde die »Sozialistische Aktion« unter anderem nach Mainz und Eltville gebracht. Für eben diese Tätigkeit wurden Wagner, Heid und Lotz verurteilt. Das Polizeidokument beschreibt minutiös, wer wem welches Material wo zugesteckt habe: »Husch vervielfältigte die Schriften und gab jeweils – etwa 6 bis 7 Mal – dem Angeklagten Unkelbach ein Exemplar. […] Gleichwohl gab er die von ihm gelesenen Nummern an Sturm und Herrmann weiter.«6)

Durch Kuriere gelangten außerdem die »Deutschland-Berichte« des SoPaDe-Vorstandes ins Ausland; diese sollten auch den Widerständlern im Exil ein »möglichst ungeschminktes Bild von Deutschland geben« (Sandvoß 2007). Durch die vermehrten Verhaftungen 1934 schwand die Zahl der Widerständler zunehmend und damit auch der Leserkreis der Flugschriften (vgl. Grasmann 1976, 19).

Die Hochphase der Festnahmen durch den 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Darmstadt lag zwischen dem 7. Mai 1934 und dem 23. Mai 1936. Häufig wurden Widerständler schon in den Jahren 1933 und 1934 des Hochverrats beschuldigt, während es zu Verhaftungen und Verurteilungen erst in den Jahren 1935/36 kam. Inwiefern die Widerständler ihre Arbeit auch nach den Verurteilungen fortsetzen konnten, geht aus dem vorliegenden Polizeiprotokoll nicht hervor. Belegt ist allerdings, dass Angeklagte wie der Obst- und Gemüsehändler Dirk gleich mehrfach wegen der »Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens verfolgt« wurden.7)

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Aufbau der Gruppen

Kleine Zellen

Was die Widerstandsforschung erheblich erschwert, die Untergrundgruppen selbst in ihrer Arbeit jedoch schützte, war ihr organisatorischer Aufbau. Die verschiedenen Gruppen waren hauptsächlich in Dreier-, Vierer- oder Fünfergruppen aufgebaut. Hierin liegt wohl auch der Grund, warum im Polizeidokument selbst auch immer wieder nur von kleineren Gruppen die Rede ist. Die Leitung einer solchen Gruppe übernahm meist ein erfahrener sozialdemokratischer Politiker, der neue Mitstreiter gewinnen sollte, wie zum Beispiel der mehrfach im Protokoll erwähnte Stoffers. Er hatte sowohl Wagner als auch Unkelbach, Sturm, Dirk und Lotz für den Widerstand gewinnen können. Manche versuchten auch neue Stützpunkte einzurichten (vgl. Ulrich 1995, 10).

Diese Form der Organisation sollte gewährleisten, dass möglichst viele Informationen auch an viele Interessenten weitergegeben wurden, gleichzeitig aber nur kleine Gruppen durch die Polizei erfasst und verhaftet werden konnten. Das Darmstädter Polizeiprotokoll lässt leider keinen Aufschluss darüber zu, inwiefern dies geglückt ist. Bekannt ist allerdings, dass die Mitglieder und die Führer der Gesamtorganisation nicht die genaue Zahl aller Mitglieder kannten (vgl. Grasmann 1976, 100).

Die einzelnen Gruppen waren streng hierarchisch aufgebaut. Um die Sicherheit der Widerständler so weit wie möglich zu bewahren, wurden nur vertrauenswürdige Parteimitglieder angeworben. Die Widerstandsgruppen waren gegenseitig streng voneinander abgeschlossen. Kontakte zwischen der Leitung und den Mitgliedern konnte auf indirektem Wege hergestellt werden (vgl. Grasmann 1976, 105).

Überparteiliche Kontakte

Auch der Kontakt zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandsgruppen sollte vermieden werden. Nichtsdestotrotz forderte die KPD die Formierung einer Einheitspartei. Die SPD lehnte dies allerdings strikt ab. Im Gegensatz zu ihr zielte die KPD nicht auf den Erhalt der Demokratie ab, sondern vielmehr auf »die Errichtung eines stalinistischen Sowjetsystems« (Bembenek & Ulrich 1990, 33).

Das Oberlandesgericht Darmstadt hat sich nur wenig mit dieser Seite des Widerstandes beschäftigt. Erwähnt wird dort allerdings, dass die »Bildung der Einheitsfront zwischen KPD und SPD […] in St. Gallen erörtert«7) worden war. Dort war auch der Widerständler Unkelbach zugegen.

Auf verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Ebene kam es durchaus zwischen SPD- und KPD-Parteimitgliedern zu Kontakten (Bembenek & Ulrich 1990, 35). Der Angeklagte Wagner beispielsweise traf in der »Eisernen Front« den Gewerkschafter Josef Heid, den er kurz darauf in die »Stoffer´schen Kreise« einführte. Der Kontakt zwischen Gewerkschaftern und Sozialdemokraten war hingegen keine Seltenheit. Im Rahmen ihrer Widerstandsarbeit kam es dabei auch zu personellen Überschneidungen.

Karte 3: Übersicht des sozialdemokratischen Widerstandes
Karte 3: Sozialdemokratische Widerstandszellen (rote Balken)

Sozialdemokratischer Widerstand

Bereits ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers hatte die SPD in einigen Gegenden, darunter auch Hessen-Nassau, mit der Planung eines konspirativen Systems begonnen (Ulrich 2005, 29). Danach folgte 1934 die Hochphase der sozialdemokratischen Widerstandsbewegung. In dieser Zeit entstanden Gruppierungen in weiten Teilen des heutigen Rheinland-Pfalz, darunter Mainz, Worms, Landau, Idar-Oberstein und Kaiserslautern. Über Mainz führten zudem Fluchtwege für politisch Verfolgte ins Ausland (vgl. Arenz-Morch u. a. 2008, 224). Auch in Wiesbaden entstanden solche Gruppierungen. Das illegale Propagandamaterial bezogen sie aus Frankfurt am Main (Bembenek & Ulrich 1990, 34). Mannheim bildete die zentrale Anlaufstelle für Materiallieferungen (vgl. Arenz-Morch u. a. 2011, 274).

Neben der Verteilung von Propagandamaterial trafen sich ehemalige Funktionäre der SPD auch, um die »sozialdemokratische Gesinnungsgemeinschaft« (Bembenek & Ulrich 1990, 34) am Leben zu erhalten. Im Rahmen ihrer Widerstandsarbeit kam es immer wieder zu Versammlungen. Ende Juni 1934 trafen sich z. B. 21 sozialdemokratische Widerständler aus mehreren hessischen und badischen Städten in Mainz.

Diese Zusammenkunft wurde von der Gestapo nie aufgedeckt, daher liegen auch keine Informationen über die Teilnehmer vor (vgl. Bembenek & Ulrich 1990, 34). Ein anderes Treffen in Mainz war dem Oberlandesgericht Darmstadt allerdings sehr wohl bekannt. Aus dem Protokoll geht hervor, dass sich im September 1934 Sturm, Lotz und ein weiterer Angeklagte Weitzel, ein Schlosser aus Eltville, trafen, um die Druckschriftenversorgung zu regeln. In dem Polizeidokument ist außerdem die Rede von einem Treffen im Walde bei Heidelberg und einer Funktionärsbesprechung in Offenbach.

Karte 4: Übersicht des kommunistischen Widerstandes
Karte 4: Kommunistische Widerstandszellen (gelbe Balken)

Kommunistischer Widerstand

Auch die KPD organisierte bald nach der Machtergreifung Hitlers ihre Widerstandsarbeit. Den KPD-Gruppen sagt man den »heftigsten, ausdauerndsten und umfangreichsten Widerstand« nach (vgl. Arenz-Morch u. a. 2008, 219). Kommunistische Aktivitäten sind aus Kaiserslautern, Worms, Frankenthal, Ludwigshafen, Speyer, Lambrecht, Kirchheimbolanden, Pirmasens, Idar-Oberstein, Birkenfeld, Trier, Kirn, Neuwied, Andernach, Koblenz, Ingelheim und Mainz bekannt. Der kommunistische Widerstand wurde allerdings durch die hohe Verhaftungsquote im Jahr 1934 stark eingedämmt. Sie hatten sich gewissermaßen für die falsche Widerstandsstrategie entschieden: statt durch leisen Protest Widerstand zu leisten, riefen sie zu Kurzdemonstrationen auf und zogen so die Aufmerksamkeit der Gestapo auf sich (vgl. Bembenek & Ulrich 1990, 71).

Karte 5: Übersicht des gewerkschaftlichen Widerstandes
Karte 5: Gewerkschaftliche Widerstandszellen (blaue Balken)

Gewerkschaften im Widerstand

Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften aufgelöst bzw. nach der Beschlagnahmung ihres Vermögens und unter Aberkennung des Streikrechts reichsweit gleichgeschaltet (vgl. Arenz-Morch u. a. 2008, 226). Schon im Frühjahr desselben Jahres kam es zu Überfällen auf Gewerkschaftsführer und gewerkschaftliche Einrichtungen durch die Nationalsozialisten (vgl. Bembenek & Ulrich 1990, 99). Nichtsdestotrotz spielten sie eine wichtige Rolle in der Widerstandsbewegung. So wurde in Frankfurt die Zentrale der Fabrikanten und Funktionäre der »Internationalen Transportarbeiter-Gewerkschaft« durch Ludwig Schwamb (1890–1945) geleitet.

Schwamb war SPD-Mitglied, ehemaliger hessischer Staatsrat und Beteiligter an der »Operation Walküre« am 20. Juli 1944 unter der Führung von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (vgl. Ulrich 1995, 9). In Frankfurt wurden auch Auslandskontakte an Wilhelm Leuschner vermittelt (vgl. Grasmann 1976, 77).

Der Verband der Nahrungsmittel- und Getränkearbeiter hatte illegale Zweigstellen in Mainz und Koblenz, wo er Propagandaaktionen organisierte und Informationen ins Ausland weiterleitete. Auch in Ludwigshafen (BASF), Ingelheim (Boehringer, vgl. Arenz-Morch u. a. 2008, 226) und Wiesbaden (Kalle und Chemische Werke Albert, vgl. Bembenek & Ulrich 1990, 131; 135) schlossen sich Gewerkschaften zum Widerstand gegen das NS-Regime zusammen.

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Nach der NS-Zeit

Viele der Widerständler, die ihre Arbeit bis zum Ende des NS-Regimes unentdeckt fortführen konnten, spielten beim Aufbau einer zweiten Demokratie in Deutschland eine wichtige Rolle (vgl. Ulrich 2005, 230). Sie waren ausschlaggebend für einen politischen Reorganisationsprozess, der ohne die Reststrukturen der demokratischen Parteien nicht möglich gewesen wäre. Im Rhein-Main-Gebiet fanden sich gleich nach Einmarsch der Amerikaner in vielen Gemeinden Sozialdemokraten zusammen, um den Wiederaufbau der Partei zu planen (vgl. Ulrich 1995, 9). Auch die ersten Führungspositionen der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg kamen aus ehemaligen Widerstandsgruppen (vgl. Ulrich 1995, 32), darunter der Leiter der Frankfurter Widerstandszelle, Heinrich Maschmeyer (vgl. Ulrich 1995, 10).

Anerkennung erfahren die ehemaligen Aktivisten nicht zuletzt durch die Aufarbeitung der Dokumente, die über geheime Treffen und Flugschriftaktionen, aber auch Verhaftungen und Verurteilungen berichten. So würdigt auch der Widerstandsforscher Dr. Axel Ulrich, in dessen Privatarchiv das Darmstädter Polizeidokument aufbewahrt wird, die Bedeutung der unscheinbaren Gruppen, die sich von Anfang an gegen das NS-Regime gestellt hatten: »Sämtliche Parteien, Verbände, Organisationen, Zusammenschlüsse und wie auch immer geartete Gruppierungen des antinazistischen Widerstandes gehören zu den Wurzeln unserer Demokratie« (Ulrich 2005, 27).

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Literatur

Arenz-Morch, Angelika; Mümpfer, Barbara & Schiffmann, Dieter (2008). Verfolgung und Widerstand in Rheinland-Pfalz 1933-1945. Bd.1: Gedenkstätte KZ Osthofen – Ausstellungskatalog. Mainz.

Arenz-Morch, Angelika; Berkessel, Hans & Schiffmann, Dieter (2011). Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Mainz.

Bembenek, Lothar & Ulrich, Axel (1990). Widerstand und Verfolgung in Wiesbaden 1933-1945. Wiesbaden.

Grasmann, Peter (1976). Sozialdemokraten gegen Hitler 1933–1945. Wien.

Ulrich, Axel (1995). Für Frieden, Freiheit und demokratischen Sozialismus. Vor 50 Jahren: Wiedergründung der SPD in Hessen-Süd. Frankfurt a. M.

Ulrich, Axel (2004). Kampf gegen Hitler. Zum politischen Widerstand gegen das NS-Regime im Rhein-Main-Gebiet. In: Verein für Sozialgeschichte Mainz e.V. (Hg.). Mainzer Geschichtsblätter. NS-Herrschaft, Verfolgung und Widerstand. Mainz.

Ulrich, Axel (2005). Politischer Widerstand gegen das »Dritte Reich« im Rhein-Main-Gebiet. Wiesbaden.

Schmiechen-Ackermann (2006). Regionalbewusstsein und Regionalkulturen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Kunze, Rolf-Ulrich. Distanz zum Unrecht, 1933-1945. Methoden und Probleme der deutschen Widerstandsforschung (175–194). Konstanz.

Sandvoß, Hans-Rainer (2007). Widerstand 1933 bis 1945. Flucht vor Hitler oder Widerstand. Teil 2: 1933 bis 1945. www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/recherche/widerstand/sandvoss.htm [07.03.2013].

Quellen

Stadtarchiv Wiesbaden (StadtA Wi), Privatarchiv Axel Ulrich. NL 75-1089: Protokollsammlung aus dem Geheimen Staatspolizeiamt Darmstadt.

Bildnachweis

Abb. 1: Protokollsammlung aus dem Geheimen Staatspolizeiamt Darmstadt. Dr. Axel Ulrich (privat), mit freundlicher Genehmigung.

Abb. 2: Bericht über Georg Heinrich Dirk aus Mainz. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, NL 75-1089: Protokollsammlung aus dem Geheimen Staatspolizeiamt Darmstadt.

Abb. 3: Verteilungsplan der Druckschriften Aus: Schadt, Jörg (1976). Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933–1940. Hg. vom Stadtarchiv Mannheim. Stuttgart, mit freundlicher Genehmigung.

Abb. 4: Sozialistische Aktion, Februar 1936 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), mit freundlicher Genehmigung.

Karte 1: Die Reichsgaue im Westen um 1933 NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz Gedenkstätte Osthofen, mit freundlicher Genehmigung.

Karte 2: Übersicht der Auslandswege (Lea Preußer).

Karte 3: Übersicht des sozialdemokratischen Widerstandes (Lea Preußer).

Karte 4: Übersicht des kommunistischen Widerstandes (Lea Preußer).

Karte 5: Übersicht des gewerkschaftlichen Widerstandes (Lea Preußer).

Zitierhinweis

Preusser, Lea Sophie (2013). Leiser Protest. Sozialdemokratische Widerstandsbewegungen während der NS-Zeit im Rhein-Main-Gebiet. In: Roth, Jonathan (Hg.). Sozialdemokratie in Rheinland-Pfalz – Dokumente aus drei Jahrhunderten. www.sozialdemokratie-rlp.de/dokumente/leiser-protest.html (Datum des Zugriffs).

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Endnoten

  1. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 12. »
  2. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 6. »
  3. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 6. »
  4. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 8. »
  5. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 5. »
  6. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 9. »
  7. StadtA Wi, Privatarchiv Axel Ulrich, Protokollsammlung, 10. »