Die Revolution, die nicht stattfand
von Michael Hebeisen
Am Sonntag, den 10. November 1918, strömen ca. 20.000 Mainzer Bürgerinnen und Bürger zum Viehhof. Das Deutsche Reich ist am Ende, der Kaiser hat abgedankt. Die Bevölkerung hat sich versammelt, um zu erfahren, wie es nun weitergehen soll. Die Führer der Mainzer Sozialdemokraten halten ihre Reden. Dann bewegt sich ein Demonstrationszug über Rheinallee und Große Bleiche zum Halleplatz. Auf den Stufen der Stadthalle ruft Bernhard Adelung, der Vorsitzende des gerade gegründeten Arbeiter- und Soldatenrates, die Demokratische Republik aus. Adelung ist den Mainzern kein Unbekannter.
Inhalt
Eine Revolution und ihr Bild
Am Sonntag, den 10. November 1918, strömen ca. 20 000 Mainzer Bürgerinnen und Bürger zum Viehhof. In den Morgenstunden hatte es noch einen Fliegeralarm gegeben und die Menschen warten nun auf den lang ersehnten Waffenstillstand. Die Lage in Mainz ist unübersichtlich, denn der Gouverneur hat bereits vor Tagen abrupt die Stadt verlassen. Kurz darauf sind 50 bewaffnete Matrosen am Bahnhof angekommen, die die Revolution nach Mainz tragen wollen und sie haben angefangen, Insassen der Mainzer Gefängnisse zu befreien.
Das Deutsche Reich ist am Ende. Der Kaiser hat abgedankt und in Berlin haben der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann und der Kommunist Karl Liebknecht fast gleichzeitig die Republik ausgerufen, allerdings unter grundverschiedenen Vorzeichen. Die Sozialdemokraten wollen eine parlamentarische Demokratie, während die Kommunisten eine basisdemokratische Räteherrschaft nach bolschewistischem Vorbild anstreben. Damit droht Deutschland ein Bürgerkrieg, den erst die Verkündigung der Weimarer Verfassung am 14. August 1919 beenden wird.
Was geschieht in Mainz?
Die Bevölkerung hat sich versammelt, um zu erfahren, wie es nun weitergehen soll. Die Führer der Mainzer Sozialdemokraten halten ihre Reden, dann bewegt sich ein Demonstrationszug über Rheinallee und Große Bleiche bis hin zum Halleplatz. Auf den Stufen der Stadthalle ruft Bernhard Adelung, der Vorsitzende des gerade gegründeten Arbeiter- und Soldatenrates, die Demokratische Republik aus. Adelung ist den Mainzern kein Unbekannter.
Der gebürtige Bremer ist Redakteur der Mainzer Volkszeitung und wurde als Sozialdemokrat gleichzeitig in die Stadtverordnetenversammlung und den hessischen Landtag gewählt. Schließlich werden die Waffenstillstandsbedingungen verlesen. Die Franzosen fordern die Räumung des linken Rheinufers und kündigen die Besetzung von Mainz, Koblenz und Köln an (Schütz 1993, 126). Unruhe kommt auf, denn nach der überstürzten Abreise des Gouverneurs gibt es in der Stadt keine legitimierte Obrigkeit mehr. Der Arbeiter- und Soldatenrat verspricht jedoch, gemeinsam mit dem Oberbürgermeister und der Stadtverordnetenversammlung die öffentliche Ordnung bis zur Ankunft der Franzosen aufrechtzuerhalten.
Der Moment, in dem Bernhard Adelung von den Stufen der Stadthalle zu der Menge spricht, wird von einem unbekannten Amateurfotographen eingefangen.
Später wird dieses Bild unter dem Titel »Ausruf der Republik« als Postkarte verkauft werden. Zehn Jahre danach erstellt der bekannte Mainzer Kunstmaler Hans Kohl (1897–1990) eine Skizze von jener Fotografie, die in der Mainzer Volkszeitung in einem Artikel zum Andenken an die Novemberrevolution abgedruckt wird (Abb. 1). Dabei wird sie fälschlicherweise auf den 9. November vordatiert.
Sonst erinnert in Mainz kaum noch etwas an diese turbulente, ereignisreiche Zeit im November 1918. In den Geschichtsbüchern der Stadt findet diese Episode keine größere Erwähnung und auch keine Gedenktafel erinnert an diese Mainzer Räteherrschaft. Die Ereignisse am 10. November 1918 sind im historischen Gedächtnis der Stadt kaum vorhanden. Umso mehr lohnt sich ein Blick auf diese spannende Zeit und ihren wichtigen Protagonisten.
Bernhard Adelung
Bernhard Adelung wird am 30. 11. 1876 in Bremen geboren. Er verbringt seine Kindheit auf dem Hof seiner Großeltern im niedersächsischen Dickel und kommt erst mit sieben Jahren zurück nach Bremen, um hier die Volksschule zu besuchen. Dank seiner guten Noten findet er eine Lehrstelle als Buchdrucker, zu dieser Zeit ein angesehener und begehrter Beruf. Nach dem Abschluss seiner Lehre begibt er sich auf die Wanderschaft, er macht sich auf die Walz.
Adelung wandert von Bremen in den Süden und kommt dabei bis nach Oberitalien. Für seine Zeit gilt er damit als Weitgereister. In der Schweiz kommt er erstmals mit politischen Diskussionen in Berührung (Adelung 1952, 59). Seinen Lebensunterhalt finanziert er sich mit zeitlich begrenzten Anstellungen bei regionalen Buchdruckern. Gleichzeitig unterstützt ihn der deutsche Buchdrucker-Verband, der wandernden Gesellen finanziell aushilft. Die Zeit seiner Wanderschaft beschreibt Adelung später als die schönste seines Lebens.
Adelung lässt sich in Mainz nieder
Bernhard Adelung beendet seine Wanderschaft 1897 mit 21 Jahren in Mainz, um rechtzeitig seinen Militärdienst zu beginnen. Er wird nach kurzer Zeit wegen gesundheitlicher Probleme entlassen und beschließt in Mainz zu bleiben. Adelung findet eine Anstellung als Buchdrucker und tritt der Gewerkschaft bei. Bereits nach kurzer Zeit wird er in den Vorstand des Mainzer Gewerkschaftskartells gewählt, der Vereinigung aller regionalen Gewerkschaften (Adelung 1952, 86). Zur gleichen Zeit wird Adelung Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, mit der er seit seiner Lehrzeit bereits sympathisiert. Wenig später wird er Redakteur des Parteiorgans »Mainzer Volkszeitung«.
Als er den Kaiser in einem seiner Artikel scharf kritisiert, wird er 1903 wegen Majestätsbeleidigung zu drei Monaten Haft verurteilt, die er in Butzbach absitzt. Als politischer Gefangener genießt er aber eine besondere Behandlung. Er hat eine Einzelzelle und bekommt besseres Essen. Vor allem kann er sich Zeitungen und sozialdemokratische Schriften zukommen lassen. Adelung nutzt diese Zeit und entwickelt hier, wie er später schreibt, sein politisches Profil (Adelung 1952, 91).
Bernhard Adelung sieht sich selbst als Pragmatiker. Er scheut die Zusammenarbeit mit anderen Parteien nicht und wird dafür auch innerhalb seiner eigenen Partei als Revisionist angegriffen. Grundsätzlich tritt er eher für eine Verbesserung bestehender Verhältnisse ein als für einen revolutionären Kurs, was sich in seiner politischen Tätigkeit niederschlägt (Adelung 1952, 119). Nach seinem Gefängnisaufenthalt setzt er seine politische Karriere fort. Er wird 1904 als 28-Jähriger zum jüngsten Stadtverordneten von Mainz gewählt und von 1903 bis 1933 ist er fast durchgängig Abgeordneter im Landtag von Hessen-Darmstadt.
Nach seiner Entlassung aus Butzbach heiratet Adelung seine Parteigenossin Johanna Groß, die als Buchhalterin arbeitet und für die Mainzer Volkszeitung schreibt (Adelung 1952, 94). Als 1914 der Weltkrieg beginnt, lebt Bernhard Adelung in gefestigten Verhältnissen, er hat drei Kinder und ist in Hessen ein bekannter Landtagspolitiker.
Der Krieg und die Revolution
Der Kriegsausbruch
Während des imperialistischen Zeitalters des 19. Jahrhunderts hatte sich Westeuropa in zwei Machtblöcke geteilt: Das Kaiserreich Deutschland und die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bildeten die Mittelmächte, während sich Großbritannien, das zaristische Russland und Frankreich 1907 zur Triple Entente zusammenschlossen. Für alle genannten Mächte war ein Krieg über kurz oder lang unausweichlich und sie hatten sich in einem jahrzehntelangen Rüstungswettlauf darauf vorbereitet. Dabei waren die jeweiligen Motive sehr unterschiedlich. Das Deutsche Reich beispielsweise wähnte sich zwischen feindlichen Machtblöcken gefangen, während es gleichzeitig für sich einen Platz unter den führenden Weltmächten beanspruchte (Howard 2007, 18).
Im Juni 1914 ermorden serbisch-bosnische Revolutionäre Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger Österreich-Ungarns. Österreich-Ungarn stellt daraufhin ein Ultimatum an die serbische Regierung, das bewusst so formuliert wird, dass seine Erfüllung die Aufgabe der serbischen Souveränität bedeuten würde (Howard 2007, 37).
Deutschland verspricht Österreich-Ungarn seine uneingeschränkte Unterstützung. Als Serbien erwartungsgemäß nicht auf das Ultimatum eingeht, erklären ihm erst Österreich-Ungarn, dann das Kaiserreich den Krieg. Die Kriegserklärung wird in Deutschland begeistert aufgenommen, in Mainz kommt es bei der Verkündigung durch den Gouverneur am 2. August zu patriotischen Kundgebungen (Adelung 1952, 131). Selbst sozialdemokratische und gewerkschaftliche Kräfte begrüßen den Krieg.
Obwohl die Aggression mit dem Einmarsch in Belgien klar von Deutschland ausgeht, interpretieren sie ihn als Verteidigungskrieg. An einen schnellen Ausgang zugunsten Deutschlands wird angesichts der eigenen scheinbaren militärischen und technischen Überlegenheit nicht gezweifelt. Die Männer, die zur Front ziehen, werden in Mainz von begeisterten Menschenmengen zum Bahnhof begleitet (Adelung 1952, 133).
Adelung meldet sich zum Heer
Auch Bernhard Adelung, in seiner Jugend aus gesundheitlichen Gründen vom Militär freigestellt, meldet sich freiwillig zum Fronteinsatz bei der Artillerie (Adelung 1952, 135). Seine Gründe, trotz seiner drei kleinen Kinder sein Leben zu riskieren, sind für viele Kriegsteilnehmer typisch in dieser Zeit. Als Sozialdemokrat ist er zwar grundsätzlich überzeugter Kriegsgegner, bezeichnet es allerdings als seine »vornehme Pflicht«, Deutschlands Kampf zu unterstützen – vor allem gegen das absolutistische Russland und seine »asiatischen Hilfsvölker«, die in seinen Augen die Errungenschaften der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bedrohen, sowie auch für die angebliche kulturelle Überlegenheit des Westens (Adelung 1952, 136).
Der Kriegsverlauf
Der anfangs erfolgreiche deutsche Feldzug im Westen kommt schnell ins Stocken. Ein jahrelanger Stellungskrieg ist die Folge, in dem lange Zeit keine Seite die Oberhand gewinnt. Die Versorgung der Massenheere nimmt ungeahnte Ressourcen in Anspruch. Bei einer Gesamtbevölkerung von 67 Millionen Menschen werden in Deutschland in den Kriegsjahren insgesamt 11 Millionen Menschen mobilisiert (Howard 2007, 177). Diese Anstrengungen können nur auf Kosten der Zivilbevölkerung erreicht werden.
Massive Einschränkungen sind die Folge, so erfolgt die Ernährung über Lebensmittelkarten. Adelung notiert, dass im Jahr 1918 für einen Erwachsenen wöchentlich 100 Gramm Fleisch und 50 Gramm Wurst vorgesehen seien (Adelung 1952, 164). Trotzdem kommt es in den Kriegsjahren nur selten zu Protesten. Die sozialdemokratische Führung unterstützt weiterhin den Krieg und wird gleichzeitig durch politische Reformen zunehmend an der Regierung beteiligt.
Hungerproteste in Mainz
In Mainz kommt es lediglich am »Weißen Montag« im April 1917 vor dem Stadthaus zu einem spontanen Protest gegen die Lebensmittelvergabe. Im Anschluss daran werden mehrere Geschäfte geplündert und die Führung der Sozialdemokraten distanziert sich schnell von diesen Geschehnissen (Adelung 1952, 161).
Bernhard Adelung selbst wird 1916 von der Front freigestellt, da es in Mainz an Redakteuren mangelt. Obwohl er in der Folge die Annahme des Eisernen Kreuzes für seine Kriegsverdienste ablehnt, kann an seiner grundsätzlichen Haltung für den Krieg nicht gezweifelt werden (Adelung 1952, 166). Die Verantwortlichen der Heeresführung hätten kaum einen Kriegsgegner heimgeholt, der als Zeitungsredakteur die Möglichkeit hätte, eine pazifistische Meinung zu verbreiten. Adelung verbringt die letzten Kriegsjahre in Mainz, wo er weiterhin die Volkszeitung herausgibt und seiner Tätigkeit in der Mainzer Stadtverordnetenversammlung und im hessischen Landtag nachgeht.
Spätestens als die Vereinigten Staaten im Jahr 1917 in den Krieg eintreten, zeichnet sich die Niederlage der Mittelmächte ab. Der Grund für das Ende der bisherigen Neutralität der USA ist der Angriff deutscher U-Boote auf zivile Schiffe.
Die deutsche Niederlage und Revolution
Im letzten Kriegsjahr 1918 ist die militärische Niederlage vorhersehbar. Das deutsche Heer verliert mehr Soldaten durch Desertation als durch feindliches Feuer, tausende Soldaten machen sich eigenständig auf den Weg Richtung Heimat (Howard 2007, 156). Als die osmanischen und bulgarischen Verbündeten besiegt werden, beschließt die deutsche Führung im September der Entente einen Waffenstillstand anzubieten.
Doch als das Kriegsende in greifbare Nähe rückt, befiehlt die Flottenführung den deutschen Kriegsschiffen, ein letztes Mal gegen die militärisch überlegenen Engländer auszulaufen.
Die Kieler Matrosen meutern
Die Admiralität will in den letzten Kriegstagen im »Todeskampf« zumindest ihre »soldatische Ehre« retten. Doch das Undenkbare geschieht. Die Matrosen der Schiffe verweigern den Befehl, in den sicheren Untergang zu fahren, und meutern.
Sie kehren nach Kiel zurück und verbünden sich mit den organisierten Arbeitern vor Ort. Truppenteile, die herangezogen werden, um die Revolte niederzuschlagen, verweigern ebenfalls den Befehl oder solidarisieren sich sogar mit den Aufständischen (Howard 2007, 161).
Die Matrosen, die die Obrigkeit vertreiben und nach sowjetischem Vorbild basisdemokratische Arbeiter- und Soldatenräte wählen, finden in ganz Deutschland Nachahmer. Die Matrosen schicken Abgesandte ins ganze Reichsgebiet und in vielen großen Städten bilden sich daraufhin Räte. Teilweise schaffen sie es die Regierungsgewalt zu übernehmen, in Bayern wird König Ludwig III. zur Abdankung gezwungen.
Die Novemberrevolution in Mainz
Die Revolution kommt nach Mainz
Die Mainzer Volkszeitung berichtet erstmals am 7. November über die Revolution in Kiel.1)
Die sozialdemokratische Führung ist alarmiert. Sie befürchtet, beim Sieg einer konservativen Konterrevolution ihre erkämpften Errungenschaften zu verlieren. Eine erfolgreiche kommunistische Revolution dagegen bedroht ihre politische Macht in den Parlamenten.
Am 8. November erreicht die Revolution auch Mainz. Am Bahnhof kommen 50 bewaffnete Matrosen aus Frankfurt an, die umgehend die Bahnhofswachen und weitere militärische Posten entwaffnen. Soldaten aus der Mainzer Garnison schließen sich ihnen an. Am Morgen des 9. November beginnen sie, die Insassen der Militär- und Landesgefängnisse zu befreien (Pakh 2009, 136). Es kommt in der ganzen Stadt zu Plünderungen, besonders militärische Vorratsdepots sind das Ziel der durch den Krieg ausgehungerten Bevölkerung (Adelung 1952, 176). Bevor die Revolution jedoch um sich greifen kann, beschließt die sozialdemokratische Führung zu handeln.
Der Mainzer Arbeiter- und Soldatenrat bildet sich
Innerhalb kürzester Zeit kann eine Bürgerwehr aus Mitgliedern aller Parteien gebildet werden, die die Matrosen zwingt, Mainz zu verlassen. Am 9. November treffen sich Abgesandte von Sozialdemokraten, Gewerkschaften und dem Militär in der Gaststätte »Schöffenhof« und bestimmen aus ihren Reihen sieben Soldaten- und sieben Arbeiterräte. Den Vorsitz dieser Räte, die im Unterschied zu anderen Städten nicht von den Arbeitern und Soldaten selber gewählt werden, übernehmen Bernhard Adelung und der bis dahin unbekannte Leutnant Wirth (Adelung 1952, 179).
Als erste Maßnahme verkündet der Rat eine nächtliche Ausgangssperre und fordert alle Soldaten auf, zu ihren Truppen zurückzukehren und ihren Dienst wieder aufzunehmen. Während in anderen Städten revolutionäre Zustände herrschen, entscheidet sich der Arbeiter- und Soldatenrat in Mainz dafür, mit dem Oberbürgermeister zusammenzuarbeiten, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
Die Voraussetzungen dafür sind nicht die besten. Mainz ist ein Knotenpunkt der Verkehrswege nach Westen und auf ihrem Rückweg von der Front ziehen täglich unzählige ehemalige Soldaten durch die Stadt. Gleichzeitig strömen die Menschen aus dem Umland in die Stadt, in der Hoffnung hier Nahrung und Versorgung zu finden.
Der Rat veröffentlicht daraufhin Beschlüsse, die er mit Gewalt durchsetzt. Als eine Menschenmenge versucht, die ehemaligen Militärdepots in Kastel zu plündern, lässt der Rat das Feuer eröffnen, es kommt zu Toten (Adelung 1952, 176). In Mainz wird der Arbeiter- und Soldatenrat allgemein akzeptiert. Bernhard Adelung wird für seine Verdienste am 15. November zum dritten Bürgermeister gewählt (Pakh 2009, 136).
Stimmen, die einen radikaleren Kurs fordern, finden kein Gehör.2) Das Ende der Mainzer Räteherrschaft ist bereits absehbar. Im Waffenstillstandsvertrag vom 11. November haben die Franzosen angekündigt, die linke Rheinhälfte mit den Städten Mainz, Köln und Koblenz zu besetzen.
Das Ende der Mainzer Räteherrschaft
Die letzten beiden Novemberwochen verlaufen ohne größere Aufregungen. Der Rat beschäftigt sich hauptsächlich mit administrativen Aufgaben. Vor der Ankunft der Franzosen werden sämtliche militärischen Depots aufgelöst und ihr Inhalt weggeschafft, um einer Konfiszierung zuvorzukommen (Adelung 1952, 187).
Gleichzeitig werden Betriebe unterstützt, um Arbeitsplätze zu schaffen und der zunehmende Schwarzmarkt wird bekämpft. Um die Ernährung der Bewohner zu gewährleisten, werden im Umland sogenannte Bauern- und Landarbeiterräte gebildet, die ihre Richtlinien von der sozialdemokratischen Reichsregierung erhalten.3) Kurz vor der Ankunft der Franzosen löst sich der Arbeiter- und Soldatenrat am 5. Dezember selbst auf, ein städtischer Ausschuss übernimmt dessen Aufgaben.
Am 9. Dezember trifft gegen 1 Uhr ein Sonderzug mit 1 000 französischen Soldaten in Mainz ein und beendet endgültig die Mainzer Räteherrschaft (Abb. 3) (Platzhoff 1930, 95).
Die französische Besatzung des Rheinlands hält bis 1930 an. Somit geht der wirtschaftliche Aufschwung der Republik während der sogenannten »goldenen Zwanziger Jahre« an der wirtschaftlich und politisch isolierten Stadt vorbei.
Adelungs weiterer Weg
Bernhard Adelung kann seine politische Karriere dennoch fortsetzen. Er wird 1920 zum Bürgermeister gewählt und behält dieses Amt bis 1928. Bei seiner Tätigkeit gerät er mehrmals mit den Franzosen aneinander, da er den Versailler Vertrag ablehnt und das auch öffentlich ausspricht. Er wird zweimal in das unbesetzte Darmstadt ausgewiesen. Im Jahr 1928 wird er zum hessischen Staatspräsidenten gewählt. Er gilt als Mann des Ausgleichs und wird von allen Parteien geschätzt.
Nach den Reichstagswahlen im März 1933, bei denen die Nationalsozialisten die Macht erlangen, wird Adelung auf Anordnung des Reichsinnenministers Wilhelm Frick (1877–1946) abgesetzt (Adelung 1952, 371). Daraufhin zieht er sich aus der Politik zurück. Auch wenn er persönlich nicht bedroht wird, muss er mit einigen Einschränkungen leben. Seine Versorgungsbezüge als ehemaliger Staatspräsident wurden zurückgehalten, sein Sohn Hans verliert seine Arbeit im Staatsdienst. Als 1938 seine Tochter Leisel Volbach stirbt und in Mainz beerdigt wird, fotografieren und beobachten Gestapomänner die Trauergemeinde.
Bernhard Adelung beginnt in dieser Zeit mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen, die 1952 unter dem Titel »Sein und Werden - Vom Buchdrucker in Bremen zum Staatspräsidenten in Hessen« herausgegeben werden. Am 24. Februar 1943 stirbt Adelung an einer Arteriosklerose. Seine Todesanzeige darf erst nach der Beerdigung veröffentlicht werden, die Angabe »Hessischer Staatspräsident a. D.« wird auf Anweisung der Gestapo gestrichen (Adelung 1952, 383). Adelung wird in Mainz auf dem Aureus, dem Mainzer Zentralfriedhof, beerdigt, wiederum unter den wachsamen Augen der Gestapo (Finkenauer 2007, 5).
Die Mainzer Räteherrschaft – ein Sonderweg
Die Ereignisse in Mainz im November 1918 lassen sich berechtigterweise als Sonderweg bezeichnen. Während in weiten Teilen Deutschlands eine politische und soziale Revolution vorangetrieben wurde, die die Machtstrukturen des Kaiserreiches überwarf, setzte die Mainzer Obrigkeit alles daran, das öffentliche und wirtschaftliche Leben der Stadt im gewohnten Gang zu halten.
Dieser Mainzer Sonderweg hatte im Wesentlichen zwei Ursachen: zum einen war mit dem Waffenstillstandsvertrag absehbar, dass die Franzosen einen Monat später in Mainz einrücken würden. Dies verhinderte schon im Vorfeld tiefgreifende Veränderungen und stellte die politische Führung der Stadt vor die Frage, wie bis dahin die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden kann. Zum anderen lag es an den handelnden Personen selbst. Bernhard Adelung, einer der maßgeblichen Führer der Mainzer Sozialdemokratie, hatte keinerlei revolutionäre Ambitionen. Er arbeitete konstruktiv mit der Stadt wie auch dem örtlichen Militär zusammen.
Allen radikaleren politischen Kräften erteilte er eine klare Absage. Sowohl den Frankfurter Matrosen, die das kaum vorhandene revolutionäre Geschehen in Mainz bemängelten, wie auch einem reichstreuen Regiment aus Bad Kreuznach, das sich ankündigte, riet er wenig subtil davon ab, nach Mainz zu kommen und sich dabei »blutige Köpfe« zu holen (Adelung 1952, 184).
Möglich wurde die Führung der Mainzer Sozialdemokraten vor allem durch den Umstand, dass die Mainzer Arbeiterräte, anders als beispielsweise in Frankfurt, nicht von einer Versammlung der Arbeiter gewählt, sondern zwischen Partei und den Gewerkschaften ausgehandelt wurden. Seine Autorität erhielt der Rat dabei durch die Person Bernhard Adelungs, der seit der Jahrhundertwende in der Mainzer Stadtpolitik aktiv war und als Mann der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung besaß.
Geschichtsschreibung
Im heutigen historischen Gedächtnis der Stadt findet der November 1918 kaum Platz, die offizielle Geschichtsschreibung beschäftigt sich kaum mit diesen revolutionären Tagen. Lediglich ein städtisches Jahrheft und der Beitrag zu einem Schülerwettbewerb im Jahr 1975 untersuchen dieses Thema eingehender. Im jüngsten Jubiläumsband zu 150 Jahre SPD in Mainz werden Adelung und die Gründung des Arbeiter- und Soldatenrates kurz porträtiert (Brüchert 2013, 45–47). Weiteren Aufschluss können die archivierten Ausgaben der Mainzer Volkszeitung in der Mainzer Stadtbibliothek geben und natürlich Bernhard Adelung selbst, der die Geschehnisse eindringlich, wenn auch subjektiv in seiner Autobiographie »Sein und Werden« schildert.
Der 1962 veröffentlichte Sammelband »Zweitausend Jahre Mainz« dagegen erwähnt die Mainzer Novemberrevolution mit keinem Wort. Alles, was der Autor Heinz Leitermann am November 1918 für erwähnenswert befindet, ist das gewohnt trübe und regnerische Wetter (Leitermann 1962, 203). Diese Lücke in der Geschichtsschreibung legt den Verdacht nahe, dass der Vorsitz eines Arbeiterrates nicht in das Bild eines späteren SPD-Staatspräsidenten passt.
Heute erinnert auch in Mainz nichts mehr an die Räteherrschaft, Gedenktafeln sucht man vergeblich. Der wenig revolutionäre Charakter der Novemberereignisse in Mainz, wie auch die historische Gedächtnislücke, machen die stürmischen Tage jenes Jahres damit buchstäblich zu einer »Revolution, die nicht stattfand«.
Literatur
Brüchert, Hedwig (2013). Von den Anfängen 1863 bis zur Zeit der Verfolgung 1933–1945. In: Ebling, Michael (Hg.). Fortschritt als Programm. 150 Jahre SPD in Mainz. Mainz.
Finkenauer, Achim (Hg.) (2007). Mainzer Persönlichkeiten auf dem Aureus. Mainz.
Hahn, Johannes; Kölsch, Rainer & Krayer, Eberhard (1980). Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19 im Raum Mainz. In: Scherf, Ferdinand & Schütz, Friedrich (Hg.). Schüler erforschen die Mainzer Geschichte (11–49). Mainz.
Howard, Michael (22007). Kurze Geschichte des Ersten Weltkriegs. München.
Leitermann, Heinz (1962). Mainz zwischen den Weltkriegen. In: Stadt Mainz (Hg.). Zweitausend Jahre Mainz (203-205). Mainz.
Pakh, Judith (2009). Die Revolution in Hessen. Einige Grundzüge. In: Plener, Ulla (Hg.). Die Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland (131–146). Berlin.
Schütz, Friedrich (1993). Bernhard Adelung rief am 10. November 1918 vor der Stadthalle die Republik aus. Mainz - Vierteljahreshefte für Kultur Politik Wirtschaft Geschichte, 4, 121–128.
Quellen
Adelung, Bernhard (1952). Sein und Werden. Offenbach.
Bibliotheken der Stadt Mainz – Wissenschaftliche Stadtbibliothek (StB Mz). Bestand 66:2°/8. Mainzer Volkszeitung, Nr. 259 (07. 11. 1918) und Nr. 264 (12. 11. 1918).
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Staatsarchive, Bestand 405/ 6336 Nr. 104.
Bildnachweis
Abb. 1: Bernhard Adelung ruft die Republik aus »Ausruf der Republik in Mainz durch Genossen Adelung am 9. November 1918«. Stadtarchiv Mainz.
Abb. 2: Waffenstillstand 1918. Trüb wie die Zeit war der regnerische Novembertag 1918 an welchem die heimkehrenden deutschen Soldaten geordnet durch die Stadt Mainz über die Kaiserbrücke marschierten. Aus: Hahn, Kölsch & Krayer 1980, 31.
Abb. 3: Am 9. Dezember trifft die Rheinarmee am Mainzer Hauptbahnhof ein. Aus: Hahn, Kölsch & Krayer 1980, 43.
Zitierhinweis
Hebeisen, Michael (2013). Die Revolution die nicht stattfand. In: Roth, Jonathan (Hg.). Sozialdemokratie in Rheinland-Pfalz – Dokumente aus drei Jahrhunderten. www.sozialdemokratie-rlp.de/dokumente/die-revolution-die-nicht-stattfand.html (Datum des Zugriffs).