»Die Arbeiterfrage und das Christentum«
Der Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler
»Wollen wir die Zeit erkennen so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist die Gegenwart und Zukunft ein Rätsel.«
Mit diesen Worten fordert der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877) die Gläubigen in einer Adventspredigt auf, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und die »Soziale Frage« als Zuständigkeit jedes Einzelnen zu erkennen. Wie kein katholischer Geistlicher zuvor macht er sich damit für die Arbeiterklasse stark.
Wegweisend für die katholische Soziallehre wird seine Schrift »Die Arbeiterfrage und das Christentum« aus dem Jahr 1864, die eine bemerkenswerte Nähe zu den Forderungen der Arbeiterbewegung um Ferdinand Lassalle erkennen lässt.
Inhalt
Anfragen an die Zeit
»Wollen wir die Zeit erkennen so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist die Gegenwart und Zukunft ein Rätsel« (zit. n. Stoll 1997, 8).
Mit diesen Worten fordert der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811–1877) die Gläubigen in einer Adventspredigt auf, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und die »Soziale Frage« als Zuständigkeit jedes Einzelnen zu erkennen. Wie kein katholischer Geistlicher zuvor macht er sich damit für die Arbeiterklasse stark und setzt sich für Veränderungen der Situation in Folge der Industrialisierung ein. Diese Hingabe findet nicht nur in seinen Worten Anklang, sondern in seinem ganzen Tun und Bestreben.
Kettelers Engagement für die Klasse der Arbeiter begründet sich in seinem Begriff von Freiheit und ist verbunden mit dem Christentum, welches er als Fundament für »jede Frage, die sich mit Abhilfe des Notstandes beschäftigt« (Ketteler 1890, 2) ansieht. Seine Vorstellungen über die Gestaltung dieser Hilfe wandeln sich mit seinen politischen Erfahrungen. Wesentliche Prämissen finden sich in seiner Schrift »Die Arbeiterfrage und das Christentum« aus dem Jahr 1864 (Abb. 1). Der Bedeutung und der »Dokumentengeschichte« dieser Schrift widmet sich folgender Beitrag, indem er versucht, die Berührungspunkte von Kettelers Arbeit mit den politischen Akteuren seiner Zeit zu umreißen.
Eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der kirchenpolitischen Überlegungen Kettelers ist die Gütersäkularisation in Folge des Reichsdeputationshauptschlusses 1803. Besonders das katholische Bildungswesen war durch die Aufhebung zahlreicher Klosterschulen und Hochschulen betroffen. Durch die Entfeudalisierung des hohen Klerus kam es außerdem zu tiefgreifenden Umschichtungen in der Kirche, wodurch sie weitgehend ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit verlor (vgl. Brehmer 2009, 12–13).
Eine Biografie
Wilhelm Emmanuel von Ketteler, geboren am 25. Dezember 1811 in Münster in Westfalen, wuchs als sechstes von neun Kindern von Maximilian Friedrich Freiherr von Ketteler und Franziska Clementine, geborene Freiin von Wenige zu Beck, auf. Seine Herkunft aus einem westfälischen Rittergeschlecht und seine daraus resultierende Beziehung zum Staat sind für Kettelers Entwicklung wesentlich und bilden eine Voraussetzung für sein Verständnis der idealen Staatsform (vgl. Kißener 2008, 124‒125).
Auf Grund seines wilden Naturells wurde er in jungen Jahren ins Internat geschickt. Die Erziehung der Jesuiten machte aus ihm einen guten Schüler, so dass er seinen Brüdern folgend die juristische Fakultät besuchte. Nach Abschluss seines ersten Staatsexamens in Münster absolvierte er den einjährigen Dienst als Unteroffizier und legte sein zweites Staatsexamen ab. 1835 wurde er dann Oberlandesgerichts-Referendar (vgl. Stoll 1997, 10).
Das sogenannte »Kölner Ereignis« 1837 bildete einen markanten Einschnitt in Kettelers Leben. Er empfand die Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August Freiherr von Droste-Vischering (1773–1845) als Eingriff des Staates in die Freiheit des Glaubens und der Kirche und folgte seinem Gewissen, indem er aus dem Staatsdienst austrat (vgl. Iserloh 2000, 109).
Der Bauernpastor
Die Frage nach der eigenen Berufung wurde für Ketteler in der Folgezeit immer dringlicher und greifbarer, sodass er ein Gespräch mit dem Eichstätter Bischof Karl August Graf von Reisach (1800–1869), der unaufgefordert die Ausbildung zum Priester mit ihm besprach, als Zeichen für seinen Weg sah und das Studium der Theologie begann.
Im Dom zu Münster erhielt er am 1. Juni 1844 die Priesterweihe. Als Pastor machte er in Zeiten der Typhusepidemie erste Erfahrungen in den Bereichen der Caritas und der Seelsorge und wurde durch seine Unterstützung in Zeiten der Hungersnot zum »Bauernpastor« (vgl. Brehmer 2009, 25‒28).
Neben seinem Engagement für die Menschen seiner Gemeinde blieb er wachsam für politische Entwicklungen und gesellschaftliche Strukturen. Mit Unterstützung seines Beichtvaters kandidierte er 1848 für die Nationalversammlung. Gerade in dieser Tätigkeit zeigte sich Kettelers Eifer im besonderen Maße für die Sicherstellung der Freiheit des Glaubens und der Religion, später auch in seiner häufigen Kritik am Kulturkampf (vgl. Brehmer 2009, 28‒27).
Durch eine Leichenrede zur Berühmtheit
Bei den Frankfurter Septemberunruhen im Zusammenhang mit der Abstimmung über den preußisch-dänischen Waffenstillstand von Malmö 1848 wurden die Abgeordneten General Hans von Auerswald (1792–1848) und Fürst Felix von Lichnowsky (1814–1848) getötet. Ketteler hielt die Leichenrede für Lichnowsky, in der er für die Freiheit der Religion plädierte und sich gegen die Rebellion aussprach. Er warf dabei insbesondere den Vertretern des Liberalismus einen nur geheuchelten Freiheitsbegriff vor.
Ketteler erlangte durch diese Rede plötzlich einen großen Bekanntheitsgrad und wurde daraufhin zum ersten Katholikentag am 3. bis 6. Oktober 1848 in Mainz als Sprecher geladen. Auch seine Stegreifrede auf der ersten Versammlung der katholischen Vereine Deutschlands zeigt seine gewandte Rhetorik und seine Fähigkeit zur präzisen Darstellung der aktuellen Entwicklungen der Zeit.
Infolgedessen wurde er wiederum eingeladen, die Adventspredigten in Mainz zu halten und konnte sich somit abermals als ausgezeichneter Redner im Gedächtnis der Menschen festigen (vgl. Kißener 2008, 132). Seine Predigten waren insofern innovativ, als dass sie erstmalig die »Soziale Frage« thematisierten und eine sozialgeschichtliche Analyse boten. So befassten sich die einzelnen Predigten mit Themen wie Eigentum, Gesinnung, Freiheit, Gerechtigkeit, aber auch mit Familie, der sozialen Gemeinschaft und der Rolle des Staates.
Die Soziale Frage
Doppelrevolution
Die Motivation für Kettelers Taten und Schriften und der Grund für deren Bedeutung aus heutiger Sicht finden ihren Ursprung sowohl in seiner christlichen Erziehung, in seiner Herkunft aus dem westfälischen Adel sowie im historischen Kontext der sozialen Frage und ihrer Entstehung. Den Nährboden für die allgemein herrschende soziale Not bildete eine Folge rasanter politischer sowie vor allem technischer Entwicklungen.
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler prägte in diesem Zusammenhang den Ausdruck der Doppelrevolution, die sich bei ihm aus der industriellen und der politischen Revolution ergibt. »Diese 'Doppelrevolution' trieb den gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozeß in eine neue Phase der modernen deutschen Geschichte hinein« (Wehler 1987, 583).
Die familiäre Situation der Arbeiter
Die »Soziale Frage« ist im 19. Jahrhundert letztlich eine Arbeiterfrage. »Infolge der marktwirtschaftlichen Ordnung wurden zunehmend mehr Erwerbstätige von ihren Produktionsmitteln getrennt und gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch 'Verkauf' ihrer Arbeitskraft zu sichern« (Möhring-Hesse 2006, 757). Technische Neuerungen verschoben die Bedeutung der Arbeitskraft und veränderten die ständische Gesellschaft. Zudem zog die Suche nach Arbeit immer mehr Menschen in die städtischen Ballungszentren, wodurch sich die sozialen Strukturen von Familie, Arbeit und Alltag veränderten.
Im Kontext der Industrialisierung, insbesondere dem Wechsel von Manufakturbetrieben zur maschinellen Produktion, sind mit »Arbeiter« im Wesentlichen die Lohnarbeiter gemeint, die »von kapitalistischen Unternehmern zu maschinenunterstützter Arbeit verwendet werden« (Sieder 1987, 146). Diese Form der Arbeit verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst in England und in Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die strukturelle Veränderung der Familie als soziales Gefüge ist als Prozess zu verstehen. War es zuvor üblich, dass der Vater sich um die Versorgung der Familie kümmerte und die Frau im Wesentlichen für die Erziehung der Kinder und für Haus und Hof zuständig war, wurde es durch die industrielle Revolution notwendig, das Einkommen als ganze Familie zu sichern. Gerade bei Arbeitslosigkeit und Krankheit oblag es allen Mitgliedern, auch den Frauen und Kindern, den Lebensunterhalt zu gewährleisten.
Damit veränderte sich die Funktion der Familie zunehmend zu einer Zweckgemeinschaft. Auch das Modell der »halboffenen Familie« spielte im Kontext der Verelendung der Arbeiterschaft eine entscheidende Rolle, beispielsweise indem der Lebensraum, der nun getrennt von der Arbeit lag, geöffnet wurde für nichtverwandte »Schlafgänger«, die eine zusätzliche Sicherung des Einkommens verschaffen sollten (vgl. Sieder 1987, 184‒185).
Der Alltag einer Familie wurde vom Rhythmus der Arbeitszeiten gestaltet. Lange Arbeitstage (zwischen zehn und zwölf Stunden) ließen kaum noch Zeit für das Familienleben übrig. Dies machte sich besonders bei der Erziehung der Kinder und der Beziehung der Eltern bemerkbar. Die fehlende Privatsphäre sorgte zudem für neue Herausforderungen für das intime Zusammenleben. Dies und die Kritik einer Verrohung der Jugend durch die fehlende Sicherung von privaten Räumen für die Familie, sind wesentliche Aspekte der »Sozialen Frage« (vgl. Sieder 1987, 198‒199).
Eine Schrift
Kettelers Schrift »Die Arbeiterfrage und das Christentum« erschien im Jahr 1864 und gehört zu seinen am häufigsten publizierten und rezitierten Schriften. Die Berücksichtigung der Nöte seiner Zeit sowie die Stellungnahme seitens der Kirche dazu, verschaffte der Schrift schnelle Verbreitung und einen großen Leserkreis. Auch die Wirkungsgeschichte der Publikation spricht für ihre Bedeutung. So heißt es, dass die Sozialenzyklika »Rerum Novarum«, im Jahr 1891 verfasst von Papst Leo XIII. (1810–1903), wesentliche Aspekte dieser Schrift aufgreift.
Beginnend mit einer Erklärung, welches Recht einem Bischof zukommt, zur Arbeiterfrage Stellung zu nehmen, gliedert sich Kettelers Schrift in sieben Teile:
- Wichtigkeit, Gegenstand und Umfang der Arbeiterfrage
- Arbeitsunfähige Arbeiter
- Die Lage des Arbeiterstandes
- Die zwei Gründe dieses Zustandes
- Vorschläge der liberalen Partei
- Vorschläge der radikalen Partei
- Die wahren und praktischen Mittel, dem Arbeiterstande zu helfen
Der erste Abschnitt befasst sich mit der Arbeiterfrage als einer Arbeiterernährungsfrage, die für die Arbeiter zunehmend zum Angelpunkt ihrer Bestrebungen wird. Hierbei stellt Ketteler auch die Absichten der Politiker heraus, sich immer dann mit der Arbeiterfrage zu beschäftigen, wenn sie einen Nutzen für ihr Tun ziehen wollen.
Der zweite Abschnitt über die »Arbeitsunfähigen Arbeiter« beschreibt die Bedeutung der Caritas und der christlichen Fürsorge. Darüber hinaus macht Ketteler deutlich, dass die Mittel, die im Zuge der Säkularisierung der Kirche entzogen wurden, eben diesen Menschen zustehen.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Marktwirtschaft in Anlehnung an Ferdinand Lassalle. Berührungspunkte bestehen mit Lassalles Gedanken in Bezug auf
»den Ausbeutungscharakter der Lohnarbeit, in der Kritik der Rolle des 'antichristlichen Liberalismus' und in der Bewertung der Produktionsassoziation, in denen eine genossenschaftliche vereinte Arbeitergruppe als selbstständige Unternehmer tätig sein werden sollten«
(Grebing 2007, 51).
Das »eherne Lohngesetz« Lassalles wird von Ketteler aufgegriffen und weitergedacht. Dabei geht es um den Warencharakter des Arbeitslohnes, von dem der Arbeiter abhängig ist. Die tägliche Nachfrage und das Angebot bestimmen dabei den Wert des Arbeitslohnes, folglich steigt der Preis, wenn die Nachfrage sich erhöht. Die Klasse der Arbeiter hat allerdings keine Möglichkeit einer Regulierung dieses Mechanismus, stattdessen ist sie ihm ausgeliefert. Hier setzen Ketteler und Lassalle an und fordern beide die Entstehung von Produktiv-Genossenschaften, indem der Arbeiter selbst ein Unternehmen gründet (vgl. Iserloh 2000, 110).
Der Bedeutung des Kapitals widmet sich der vierte Abschnitt:
»Erstens vermindert [die Übermacht des Kapitals] die Zahl der selbständigen Arbeiter und vermehrt die Masse der eigentlichen Tagelöhner und Lohnarbeiter. [ ] Die zweite Wirkung des Kapitals besteht darin, daß es in der Verbindung mit der Maschine den Preis der Ware mehr und mehr herabdrückt« (Ketteler 1890, 132).
Hier betont Ketteler ebenfalls die fehlenden Aktivitäten seitens des Staates. In Kapitel 5 kommentiert Ketteler die verschiedenen Vorschläge der Liberalen und unterteilt sie in Gruppen, sortiert nach ihren Absichten. Im darauffolgenden Kapitel antwortet er diesen Absichten mit der Bildung von Produktassoziationen.
In welcher Form der Staat dieses Vorhaben unterstützen soll, unterscheidet Lassalles Weg, der eine Hilfe durch Staatskredite vorschlägt, von Kettelers Ansatz, der zu einer grundsätzlichen Gesinnungsänderung aufruft. In diesem sechsten Kapitel wird deutlich, dass Ketteler zwar die sozialen Strukturen in seine Analyse aufnimmt, die Lösungen allerdings davon abkoppelt. Nichtsdestotrotz vollzieht sich allmählich ein Perspektivenwechsel bei Ketteler »von einer systemverändernden Sozialreform weg und hin zu einer auf Einzelmaßnahmen gerichteten Sozialpolitik bei prinzipieller Anerkennung der modernen Wirtschaft und Gesellschaftsordnung« (Iserlohn 1987, 8‒11).
Auch seine Definition von Eigentum, angelehnt an Thomas von Aquin, spielt in diesem Kontext eine entscheidende Rolle, insofern Ketteler dem Menschen unveränderliche Rechte, begründet im Naturrecht, zuspricht. Somit wird die Rechtmäßigkeit der staatlichen Finanzierung in Frage gestellt, da es der Besitz der Menschen ist, über den der Staat verfügt (vgl. Grebing 2007, 51‒52).
Kapitel 7 verweist auf die »wahren Hilfsmittel« zur Unterstützung des Arbeiterstandes. Besondere Betonung liegt dabei auf der Bildung karitativer Anstalten, der Sicherung der Familien, der wahren Bildung durch die Lehre der Kirche, der Funktion der Gemeinschaft und letztlich der Förderung der Produktivassoziationen. Die »praktischen Mittel, dem Arbeitsstande zu helfen« (Ketteler 1890, 119) sieht Ketteler nur in der Kirche selbst. Allerdings erkennt er, dass eine reine Gesinnungsänderung allein nicht reicht, um die soziale Situation der Arbeiter zu verändern. Die Lösung der Problematik sieht er in seiner Schrift noch nicht in den Strukturen selbst, wobei er diese bereits klar benennt und in die Analyse einbindet.
Zwei politische Gruppen – ein Ziel
1905 erzielte das Zentrum zusammen mit der SPD eine Zweidrittelmehrheit im bayrischen Landtag und konnte somit erreichen, dass das indirekte Wahlrecht, welches die Nationalliberalen begünstigte, abgeschafft werden konnte und es zur Durchsetzung des direkten Wahlrechts kam.
Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, wenn man sich der Beziehung der beiden Parteien zueinander bewusst wird. So hatte das Zentrum als Repräsentant des deutschen Katholizismus eine konservativ geprägte Orientierung. Die SPD hingegen war traditionell für ihre kritische Haltung zur Kirche bekannt. Die gemeinsame Basis dieser beiden politischen Gruppen aber war der Kampf gegen die soziale Unterdrückung der Arbeiterklassen, der Einsatz für bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse sowie ein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit (vgl. Kißener 2012, 88‒89).
Das Hauptanliegen der Arbeit des Mainzer Bischofs Ketteler, die Bekämpfung der sozialen Missstände, wird bereits in seiner Schrift deutlich. Allerdings zeichnet sie nur eine Momentaufnahme der Überzeugung des Bischofs auf. Sein Ansatz zur Lösung der sozialen Frage ist in drei verschiedene Phasen einzuordnen und hat sich parallel zu seinen Lebenserfahrungen entwickelt.
Die Entwicklung von Kettelers Soziallehre
Karl Marx sah Kettelers anfängliche Bestrebungen der Verbesserung der sozialen Situation durch Caritas und christliche Fürsorge als das Bestreben der »katholische Pfaffen«, die wie »Hunde kokettieren, wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage« (Marx & Engels 1950, 272).
Aber auch Ketteler selbst sah, dass die reine Ausübung der christlichen Nächstenhilfe nicht allein zum Aufbrechen vorhandener Strukturen reichen würde (vgl. Gatz 2006, 1414) und forderte in Anlehnung an die Gedanken Lassalles die Einbindung des Staates und die Entstehung einer Sozialpolitik. In diese zweite Phase ist seine Schrift »Die Arbeiterfrage und das Christentum« zu verorten.
Kettelers Einsatz für die Anliegen der Arbeiter lässt ihn in der Folge zum »Arbeiterbischof« werden (vgl. Kißener 2012, 88) und findet seinen Höhepunkt in der Ansprache auf der Liebfrauenheide (Marienwallfahrtskapelle der Gemeinde St. Nikolaus in Klein-Krotzenburg, Kreis Offenbach) vor 10.000 Arbeitern, die auch als »Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung« gilt (vgl. Kißener 2008, 135). Diese Zeit kann man als 'dritte Phase' von Kettelers Soziallehre bezeichnen.
Gerade im Vergleich zu seinen Adventspredigten, die die Ursachen der sozialen Missverhältnisse in der Abwendung der Menschen von Christus sahen und somit eine Neuorientierung auf ihn hin forderten, weist diese Ansprache auf die strukturellen Bedingungen hin und zeigt die Gründe der Verelendung in den gesellschaftlichen Ordnungen. Die Problemlösung wird darüber hinaus durch explizite Maßnahmen konkretisiert und zur Aufgabe der Politik gemacht.
Hier vollzieht sich Kettelers Ansatz von einer Sozialreform zur Sozialpolitik (vgl. Stoll 1997, 26). Demnach fordert er zusammen mit den Arbeitern »1. Erhöhung des Arbeitslohnes; 2. Verkürzung der Arbeitszeit; 3. Gewährung von Ruhetagen; 4. Verbot der Kinderarbeit; 5. Abschaffung der Arbeit von Müttern und jungen Mädchen in den Fabriken« (Iserloh 2000, 110‒111).
Die Nasenspitze
Dass es sich bei dem Mann, der als Rebell gegen die soziale Ungerechtigkeit und für die Freiheit der Kirche kämpfte und bei dem als wild und jähzornig beschriebenen jungen Studenten, der in seiner Verbindungszeit während eines Duells, weil »ein 'unverschämter' Kerl [ ] ihm auf den Fuß getreten [war]« (Kißener 2008, 126), seine Nasenspitze verlor, um dieselbe Person handelt, scheint zunächst einmal unwahrscheinlich.
Aber genau dies vereint sich in der herausragenden Persönlichkeit des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der mit seinem Gespür für gesellschaftliche Strukturen seiner Hirtenaufgabe im besonderen Maße entsprochen hat. Ob er tatsächlich in all seinen Anliegen modern war, ist nicht – wie oft geschehen – grundsätzlich in Frage zu stellen; es sollte hervorgehoben werden, dass er die kommenden Gefahren der nachfolgenden Zeit wie kaum ein anderer zu erkennen wusste. Freiheit und Gewissen bildeten aus eben diesem Grund für ihn die Grundpfeiler der Gesellschaft:
»Fast alle späteren katholischen Sozialpolitiker in Deutschland – Hertling, Hitze, die Führer der Christlichen Gewerkschaften, der gesamte linke Flügel des Zentrums – verstanden sich mehr oder weniger als Schüler Kettelers. Selbst Papst Leo XIII. berief sich in der Enzyklika „Rerum Novarum“, die den sozialen Katholizismus nach 1891 stark beeinflusste, nachdrücklich auf Ketteler als seinen Vorgänger« (Klein, Ludwig & Rivinius 1976, 13).
Literatur
Brehmer, Karl (2009). Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811‒1877) Arbeiterbischof und Sozialethiker. Auf den Spuren einer zeitlosen Modernität. Regensburg.
Gatz, Erwin (2006). Ketteler. In: Kasper, Walter (Hg.). Lexikon für Theologie und Kirche. Band 5: Hermeneutik – Kirchengemeinschaft (756–758). Freiburg u.a.
Grebing, Helga (2007). Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert. Berlin.
Iserloh, Erwin (1987). Wilhelm Emmanuel von Ketteler – sein Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Mainz.
Iserloh, Erwin (2000). Ketteler. In: Krause, Gerhard & Müller, Gerhard (Hg.). Theologische Realenzyklopädie. Band 18: Katechumenat/Katechumenen – Kirchenrecht (109–113). Berlin.
Kißener, Michael (2008). Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811‒1877). Bischof der Moderne. In: Felten, Franz J. (Hg.). Mainzer (Erz-)Bischöfe in ihrer Zeit (123‒141). Stuttgart.
Kißener, Michel (2012). Grundzüge der historischen Entwicklung. In: Kahlenberg, Friedrich P. (Hg.). Kreuz ‒ Rad ‒ Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte. Band 2: Vom ausgehenden 18- bis zum 21. Jahrhundert (57‒150). Mainz.
Klein, Wolgang; Ludwig, Heinrich & Rivinius, Karl (1976). Texte zur katholischen So-ziallehre II. Dokumente zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Arbei-terschaft am Beispiel der KAB. Stuttgart.
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1950). Briefwechsel (= Bd. 4, 1868-1883). Berlin.
Möhring-Hesse (2006). Soziale Frage. In: Kasper, Walter (Hg.). Lexikon für Theologie und Kirche. Band 9: San – Thomas (756–758). Freiburg u.a.
Sieder, Reinhard (1987). Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt a. M.
Stoll, Christoph (1997). Mächtig in Wort und Werk. Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Mit einer Sammlung ausgewählter Texte Bischof Kettelers. (= Mainzer Perspektiven aus der Geschichte des Bistums 1). Mainz.
Wehler, Hans-Ulrich (1987). Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“: 1815-1845/49. München.
Quellen
Ketteler, Wilhelm E. Freiherr v. (41890). Die Arbeiterfrage und das Christentum. Mainz
Bildnachweis
Abb. 1: »Die Arbeiterfrage und das Christentum«. Titelblatt der Erstausgabe 1864. TECHNOSEUM Landesmuseum für Technik und Arbeit. PVZ: 2012D-007.
Abb. 2 und 3: Bistum Mainz, mit freundlicher Genehmigung.
Zitierhinweis
Granieczny, Alexandra (2013). »Die Arbeiterfrage und das Christentum«. Der Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. In: Roth, Jonathan (Hg.). Sozialdemokratie in Rheinland-Pfalz – Dokumente aus drei Jahrhunderten. http://www.sozialdemokratie-rlp.de/dokumente/die-arbeiterfrage-und-das-christentum.html (Datum des Zugriffs).